Das System
positive Energie war aus dem Saal |131| gewichen wie Luft aus einem geplatzten Ballon. Nach ein paar Stücken brach Olaf den Auftritt ab. Die Leute klatschten höflich,
verlangten jedoch keine Zugabe.
Enttäuscht verließ Unger mit seinen Bandkollegen die Bühne.
»Sorry, Jungs«, sagte Rudi, als sie im Vorbereitungsraum hinter der Bühne waren und draußen bereits die ersten Akkorde von
Uriah Heeps »Easy Livin’« zu hören waren.
Niemand sagte etwas. Das unheimliche Heulen hatte Unger bis ins Mark erschreckt. Wahrscheinlich war es nur ein harmloser Computerfehler
gewesen, genau wie der Absturz von Rudis Hammondorgel-Simulation. Die Technik wurde heutzutage eben immer leistungsfähiger,
aber auch immer unzuverlässiger.
Doch tief in seinem Bauch hatte er das beunruhigende Gefühl, dass das Heulen der Sirenen eine Warnung gewesen war.
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31.
Hamburg-Altona,
Samstag 22:20 Uhr
Lisa schob langsam ihre Hände nach vorn, als drücke sie gegen ein unsichtbares Hindernis. Sie streckte die Arme zur Seite
aus, hob ein Bein und drehte sich langsam um sich selbst, wie eine Balletttänzerin in Zeitlupe.
Mark stand am Türpfosten und beobachtete ihre Tai-Chi-Übungen. Den ganzen Tag über hatte er neben ihr gesessen und ihren stummen
Kampf gegen die Technik verfolgt. Er war sich reichlich überflüssig vorgekommen und doch gebannt gewesen. Irgendwann hatte
Lisas Konzentration nachgelassen. Sie hatte sich die Augen gerieben, war wortlos ins Nebenzimmer gegangen und hatte mit ihren
Übungen begonnen.
Mark war hungrig und müde, aber er wagte nicht, sie in |132| ihrer Konzentration zu stören. Er spürte, dass sie heute Übermenschliches geleistet hatte, und stellte nicht zum ersten Mal
fest, dass er ziemlich blöd gewesen war, ein solches Talent fristlos zu entlassen.
Endlich hielt Lisa in ihren langsamen Bewegungen inne. Sie atmete mit geschlossenen Lidern ein paar Mal ruhig ein und aus.
Dann öffnete sie ihre großen, dunklen Augen, und ihr Blick traf seinen. Sie zog die Stirn kraus, als sie erkannte, dass er
sie beobachtet hatte. Wortlos ging sie wieder ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Rechner.
»Hast du schon was rausbekommen?«, fragte er.
»Nicht wirklich«, sagte sie, während ihre Finger erneut über die Tastatur flogen. Sie hatte den befallenen Computer wieder
ans Internet angeschlossen und beobachtete nun mit Hilfe verschiedener Softwarewerkzeuge, was das rätselhafte Programm machte.
»Das Ding verhält sich nicht wie der ursprüngliche DINA-Client. Es läuft permanent im Hintergrund und zweigt einen ziemlichen
Teil der Rechenkapazität ab. Ich verstehe nur nicht, was es eigentlich tut. Es kommuniziert sehr viel mit dem Internet, mit
Tausenden verschiedener IP-Adressen – wahrscheinlich andere Instanzen desselben Programms.«
»Meinst du, es rechnet irgendwas aus? So wie die Wettersimulationen?«
»Könnte sein, aber irgendwie glaube ich das nicht. Es scheint mir nicht sehr systematisch vorzugehen. Es ist eher so, als
ob zufällige Prozesse ablaufen. Manchmal ist das ganze Programm vollkommen inaktiv, dann plötzlich verbraucht es für ein paar
Sekunden fast die gesamte Rechenkapazität und kommuniziert intensiv.« Lisa fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. »Aber
am seltsamsten ist seine Struktur.«
»Seltsam? Wie meinst du das?«
»Sie wiederholt sich. Ich meine, der kleine Teil, den ich bisher angesehen habe, ist wie eine permanente Wiederholung |133| derselben Anweisungen. Nur mit ganz leichten Abweichungen.«
»Wieso ist das seltsam?«
»Wenn du willst, dass ein Programm mehrfach dasselbe tut, dann schreibst du eine Funktion dafür, oder mindestens eine Schleife.
Das heißt, der Programmcode taucht nur an einer Stelle auf, die mehrfach durchlaufen wird. Nur absolute Stümper würden auf
die Idee kommen, dieselben Programmzeilen an verschiedene Stellen zu kopieren.«
»Aber wenn das Programm nicht jedes Mal exakt dasselbe machen soll?«
»So was regelt man normalerweise über die Parameter, mit denen die Funktion aufgerufen wird.«
»Also ist das Programm das Werk eines Stümpers?«
»Wohl kaum. Es ist mit Leichtigkeit durch alle meine Sicherheitssysteme gedrungen. Das ist ja gerade das Merkwürdige: Einerseits
ist dieser Wurm unglaublich raffiniert, andererseits scheint er …«
Das Licht flackerte, dann erlosch es. Nur das blassblaue Leuchten des Monitors erhellte den Raum. »Was ist denn jetzt los?«,
fragte
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