Das System
Sie ist manchmal etwas
… unwirsch.« Er klopfte, wartete jedoch nicht auf ein »Herein«, sondern öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer mit spärlicher
Einrichtung. Ein Fenster in der gegenüberliegenden Wand gab den Blick frei auf den kleinen, aber gepflegten Park, der die
Klinik umgab.
Es hatte den ganzen Vormittag und etliche Telefonate gedauert, bis sie Gerda Erling ausfindig gemacht hatten. Sie war hier
in Ahrensburg in einem Pflegeheim für psychisch Kranke untergebracht.
Frau Erling saß an einem kleinen Tisch vor dem Fenster und malte mit Wasserfarben: Eine kleine, schmächtige Frau mit weißen
Locken. Sie drehte sich nicht um. Die Wände hingen voll mit Bildern, die sie gemalt haben musste: düstere Figuren mit dämonischen
Fratzen in Schwarz-, Braun- und Rottönen.
Der Pfleger räusperte sich. »Frau Erling?«
Keine Reaktion. Vielleicht hörte sie nicht gut? Mark wollte zu ihr gehen und sie leicht an der Schulter berühren, doch der
Pfleger hielt ihn zurück. »Frau Erling hört sehr gut«, sagte er. »Sie hat nur noch nicht beschlossen, uns zur Kenntnis zu
nehmen.«
Sie warteten eine Weile, und Mark begann, sich zu fragen, wie lange es noch dauern würde. Endlich räusperte sich der Pfleger
ein weiteres Mal. »Frau Erling, hier ist Besuch für Sie.«
Die Frau fuhr herum. Von dem Pinsel in ihrer Hand tropfte schwarze Farbe auf den Linoleumboden. Ihr Gesicht war faltig, die
kleinen Augen glänzten böse unter zusammengezogenen Augenbrauen. Sie war nicht die Frau auf dem Foto aus Rainers Wohnung.
|216| »Was ist denn nun schon wieder?«, sagte sie mit krächzender Stimme. »Wer sind die? Kommen sie mich jetzt holen, oder was?«
Sie richtete den Pinsel auf Mark, als sei er eine Waffe.
Der Pfleger hob beschwichtigend die Hände. »Das sind nur zwei Besucher. Sie möchten kurz mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen.«
»Meinen Sohn? Ich habe keinen Sohn!« Die Alte drehte sich wieder um und widmete sich ihrem Bild. Mark sah den Pfleger an,
der nur mit den Schultern zuckte.
Er ging ein paar Schritte auf Rainers Mutter zu. »Frau Erling«, sagte er sanft. »Rainer ist tot.«
Der Pfleger sog hörbar die Luft ein. Die Alte erstarrte. Dann wandte sie sich langsam um. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen.
»Rainer? Tot?«
Mark nickte. Er fragte sich, ob er einen schrecklichen Fehler begangen hatte, ihr die Wahrheit zu sagen. Welches Recht hatte
er, diese arme Frau mit so einer schlimmen Nachricht zu konfrontieren? Andererseits, es stand so viel auf dem Spiel …
Frau Erling grinste. »Na endlich!«, sagte sie.
Mark war einen Moment sprachlos. »Wie bitte?«
»Ich sagte: Na endlich ist er tot.« Sie kratzte sich an der Nase und sah ihn mit ihren schwarzen Augen an. »Er ist nämlich
besessen, müssen Sie wissen«, sagte sie und kicherte leise. »Er war besessen, meine ich. Aber der Dämon in ihm ist jetzt wohl
wieder in die Hölle gefahren!«
Ihre Augen wurden glasig, und für einen Moment hatte Mark das Gefühl, dass nun vielleicht die Wahrheit in ihren vom Wahnsinn
umnebelten Geist gelangte und sie endlich die Trauer empfand, die eine Mutter beim Verlust ihres Sohnes spüren musste. Doch
das Grinsen wich nicht von ihrem Gesicht.
»Er war schon immer böse. Schon als kleines Kind«, sagte sie. »Nie hat er mit mir geredet. Nie hat er mich angesehen. |217| Ich wusste immer, dass er etwas Geheimes plante. Er wollte mich töten. Ich habe versucht, den Dämon aus ihm herauszuprügeln,
aber es ging nicht …« Plötzlich traten Tränen in ihre Augen. »Es ging nicht … es ging nicht …«
Mark schauderte bei dem Gedanken, welche schreckliche Kindheit Rainer durchlitten haben musste. Kein Wunder, dass er so scheu
und zurückgezogen gewesen war.
»Kommen Sie«, sagte der Pfleger und zog ihn am Arm.
Mark nickte. Er verabschiedete sich nicht.
»Was ist mit ihr los?«, fragte Lisa, als sie den Flur des Heims entlangliefen.
»Sie leidet unter paranoider Schizophrenie«, sagte der Pfleger. »Als ihr Sohn acht Jahre alt war, haben die Nachbarn die Polizei
gerufen, weil sie seltsame Geräusche und Schreie aus ihrer Wohnung hörten. Die Beamten fanden sie, als sie versuchte, ihren
Sohn in der Badewanne zu ertränken. Seitdem ist sie hier.«
»O Gott!«, sagte Lisa.
»Was geschah mit Rainer?«, fragte Mark.
»Sie steckten ihn in ein Heim. Mehr weiß ich nicht.«
»Hat er keinen Vater?«
Der Pfleger zuckte mit den Schultern. »Wenn er noch lebte,
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