Das System
konnten sie ihn damals wohl nicht ausfindig machen. Soviel ich
weiß, hat er die beiden früh verlassen. Kein Wunder, wenn Sie mich fragen.«
»Rainer hatte das Asperger-Syndrom«, schob Lisa ein. »Glauben Sie, es kommt daher, dass ihn seine Mutter so behandelt hat?«
Der Pfleger schüttelte den Kopf. »Wenn es wirklich das Asperger-Syndrom war, das er hatte, dann nicht. Das ist eine Erbkrankheit.
Oder besser gesagt, eine besondere erbliche Veranlagung.«
»Er muss schrecklich gelitten haben«, sagte Mark.
Der Pfleger nickte. »Wenn er ein Aspie war, dann war das vielleicht sogar sein Glück. Autisten gehen weniger soziale |218| Bindungen ein als normale Menschen. Er hat seine Mutter wahrscheinlich eher als eine Naturkatastrophe empfunden und nicht
als das Monster, das sie ist.«
»Monster? Sie ist doch krank!«
»Ja, ich weiß. Ich sollte so etwas nicht sagen. Aber glauben Sie mir, wenn Sie täglich mit ihr umgehen müssen, dann können
Sie nicht anders, dann hassen Sie sie irgendwann.«
»Sind viele Patienten hier so?«, fragte Lisa.
»Glücklicherweise nicht. Ich hätte schon längst gekündigt, wenn es hier mehr als eine von der Sorte gäbe. Aber vermutlich
leben da draußen Tausende kranke Menschen wie sie, und niemand merkt es.«
»Tausende?«, fragte Lisa. »Sie meinen, diese Art von Wahnsinn kommt häufig vor?«
»Man schätzt, dass zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland an Schizophrenie leiden. Das sind anderthalb Millionen Menschen.
Die meisten sind nicht bösartig, aber mehr oder weniger milde Formen von Paranoia sind weit verbreitet.« Der Pfleger seufzte.
»Wenn Sie eine Zeitlang mit psychisch Kranken zu tun haben, fangen Sie an, zu verstehen, warum es mit unserer Welt so im Argen
liegt. Das, was wir ›normal‹ nennen, kommt Ihnen dann eher wie die Ausnahme vor.«
»Können Sie uns die Adresse des Heims sagen, in das Rainer Erling gebracht wurde?«, fragte Mark, der unbedingt das Thema wechseln
wollte.
»Kommen Sie«, sagte der Mann und führte sie in ein Büro mit mehreren stählernen Aktenschränken. Er zog eine dünne Mappe aus
einer Hängeregistratur und blätterte sie durch. »Mal sehen … das muss Anfang der Neunziger gewesen sein … ah ja, hier haben
wir’s.« Er nannte Mark die Adresse.
Sie bedankten sich und verließen die Klinik. Draußen musste Mark erst einmal tief durchatmen. Der Besuch bei Rainers Mutter
hatte ihn aufgewühlt und erschreckt. Hatte |219| Rainer Pandora entwickelt, um eine dem Menschen intellektuell und moralisch überlegene Wesensform zu schaffen? Eine bessere
Spezies, die irgendwann den Platz der so unvollkommenen Menschheit einnehmen sollte? Nach allem, was er heute über dessen
Kindheit gehört hatte, konnte er ihm diese Idee kaum verübeln.
Sie stiegen in Lisas klapprigen Renault und machten sich auf den Weg, um die nächste Station in Rainers Leben zu erkunden.
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52.
Hamburg-Barmbek,
Dienstag 15:16 Uhr
War die Pflegeeinrichtung, in der man Rainers Mutter untergebracht hatte, ein deprimierender Ort, so entpuppte sich Rainers
ehemaliges Kinderheim als das genaue Gegenteil. Es wurde von der katholischen Kirche betrieben. Die Leiterin, eine Ordensschwester
namens Agnes, war eine rundliche Frau mit einem warmen Lächeln, deren Begeisterung für ihren Beruf man ihr sofort ansah. Offensichtlich
betrachtete sie die etwa vierzig Waisen, die in dem Heim untergebracht waren, als ihre Familie. Als Mark und Lisa mit ihr
über die Flure gingen und in die Gesichter der Kinder aller Altersgruppen schauten, spürten sie, dass die meisten ihre schrecklichen
Erlebnisse hier vergessen konnten.
Schwester Agnes erinnerte sich sofort an Rainer, als sie in ihrem kleinen, karg eingerichteten Büro saßen. Ein breites Lächeln
erschien auf ihrem Gesicht.
»Er war ein kluger Junge«, sagte sie. »Sehr still, sehr verschlossen und sehr begabt. Einmal, er war elf oder zwölf Jahre
alt, kam er zu mir und fragte mich nach der Bedeutung eines Gleichnisses. Ich habe mich wie ein Kind gefreut, denn es kam
sehr selten vor, dass er von sich aus etwas fragte. Als |220| ich ihm das Gleichnis erklärte, zitierte er einige andere Textstellen aus dem Kopf. Wörtlich. Ich war überrascht, dass er
die Bibel so gründlich gelesen hatte. Ich wollte wissen, wie gründlich, und stellte ihm ein paar Fragen zum Evangelium des
Johannes.« Ihre Augen leuchteten bei der Erinnerung. »Er konnte sie alle beantworten. Er kannte die
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