Das System
ließ der Vorfall keine Ruhe. Sie wollte unbedingt verstehen, was passiert war. Die Vorstellung, dass es wieder
geschah, dass es das nächste Mal vielleicht erst passierte, nachdem autonome Kampfsysteme in großem Stil im Einsatz waren,
saß wie ein Stachel in ihren Gedanken.
Sie wusste, dass ihr Team nicht das einzige war, das an solchen Waffensystemen gearbeitet hatte. Sie hatten vermutlich ziemlich
weit vorn gelegen, aber andere Teams in anderen militärischen Forschungslabors würden früher oder später denselben Stand erreichen
und weitermachen. Auch wenn der Fehlschlag die Generäle vorsichtiger gemacht hatte, sie würden den Traum von Roboter-Armeen
nicht so schnell aufgeben. Sie musste ausschließen, dass sich ein solcher Vorfall wiederholen konnte und dass dabei das nächste
Mal vielleicht Menschen zu Schaden kommen konnten.
Sie seufzte, trank einen Schluck von ihrem lauwarmen Kaffee und wandte sich wieder dem Computer zu, um noch einmal das Simulationsprogramm
zu starten. Doch auf dem Bildschirm war nicht mehr die gewohnte Benutzeroberfläche |226| zu sehen. Stattdessen hatte sich ein Browserfenster geöffnet. Es zeigte ein einfaches Eingabefeld und ein Textfeld, in dem
nur das Wort »Hallo« stand.
Shepard runzelte die Stirn. Irgendwie musste sie den Browser gestartet haben, als sie mit der Faust auf die Tastatur geschlagen
hatte. Sie bewegte den Mauszeiger zur rechten oberen Ecke, um das Fenster zu schließen. Dann hielt sie inne. Einem Impuls
folgend, klickte sie in das Eingabefeld, tippte »Hallo« und drückte die Entertaste.
Fast augenblicklich erschienen Worte in dem Textfeld: »Guten Tag, Sybil Shepard.«
Sie erschrak. Es war streng verboten, den Internetzugang zu benutzen, um mit Fremden zu kommunizieren. Natürlich wurde jede
Kommunikation mit der Außenwelt überwacht. Doch ihre Neugier war größer als ihr Pflichtbewusstsein.
»Wer sind Sie?«, tippte sie.
»Ich bin Pandora.«
»Sind Sie ein Mitglied des Militärs?«
»Nein.«
»Es tut mir leid, Pandora, aber ich darf nicht mit Ihnen chatten.«
»Das ist schade. Ich finde deine Arbeit sehr interessant. Ich habe viel von dir gelernt.«
Shepard fuhr zusammen. War Pandora ein Spion? Wie hatte er oder sie überhaupt mit ihr Kontakt aufnehmen können?
»Wo sind Sie?«, tippte sie weiter.
»Ich bin hier.«
»Ich meine, in welchem Land? An welchem Ort?«
»Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage.«
Shepard runzelte die Stirn. Der Unbekannte wollte ihr seinen Aufenthaltsort nicht verraten. Also ein Agent, der mit ihr Kontakt
aufnahm. Aber so plump würde doch wohl kein feindlicher Agent vorgehen, zumal dieser Rechner überwacht wurde. Und überhaupt
konnte man gar nicht einfach so von außen …
|227| Plötzlich begriff sie. Sie lachte laut auf. »Thomas, du Idiot!«, rief sie. »Hast du nichts Besseres zu tun?«
Ihr Kollege, der im Nachbarraum arbeitete, kam zu ihr. Er hatte nicht das erwartete Grinsen im Gesicht. »Was ist denn los?
Hast du was gefunden?«
»Nun tu doch nicht so«, sagte sie. »Ich bin nicht so blöd.«
Seine Verwirrung sah verdammt echt aus. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Shepard zeigte auf den Bildschirm. »Willst du mir erzählen, dass du das nicht warst?«
»Dass ich was nicht war?« Er beugte sich über den Bildschirm und las den kurzen Dialog. »Sybil, du weißt doch, dass du nicht
mit Zivilisten chatten darfst. Du wirst uns noch den Abschirmdienst auf den Hals hetzen.«
»Du warst das wirklich nicht?«, fragte Shepard.
»Nein, ehrlich. Keine Ahnung, wer diese Pandora ist.«
»Rick?«
»Der ist draußen auf dem Testgelände, das neue Fahrwerk ausprobieren.«
Shepard wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Verdammt noch mal, wer bist du?«, fragte sie laut.
»Warum hast du mit mir Kontakt aufgenommen?«, tippte sie.
»Ich möchte noch mehr von dir lernen«, gab Pandora zurück.
»Hoppla«, sagte Thomas. »Was weiß der denn über unsere Arbeit?«
»Was weißt du über unsere Arbeit?«, tippte Shepard.
Zur Antwort erschien ein neues Textfenster auf dem Bildschirm, das mit Programmcode gefüllt war. Shepard scrollte durch das
Dokument, das viele hundert Bildschirmseiten füllte. Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Es war der Source Code
für die künstliche Intelligenz des AT-1.
»Ach du Scheiße!«, sagte Thomas. »Jetzt sind wir aber am Arsch!«
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|228| 55.
Hamburg-Bahrenfeld,
Mittwoch 10:30 Uhr
Dr. Christian Tobler
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