Das Tagebuch der Eleanor Druse
geschafft hat, aber er hat sich bemüht. Aber du darfst niemandem sagen, dass er es getan hat, sonst gibt Hilda ihm das Geld nicht, das er von seiner Mom geerbt hat.«
»Guter Junge! Ich werde schweigen wie ein Grab. Ich muss meine Brille erst noch suchen. Liest du mir den Brief solange vor?«
»Ja, kann ich machen«, murmelte Bobby. »In einem hatte Ray übrigens Recht, Mom. Das Zeug ist ausgemachter Schwachsinn. Und ziemlich verquast obendrein. Also ich würde nichts drauf geben. Wenn du mich fragst, waren bei ihr einige Schrauben locker. Gut, jetzt geht’s los: ›Gott hat Sally Druse mit einem sehr viel gnädigeren Gedächtnis gesegnet als mich, und deshalb will ich ihr nicht mit grausigen Erinnerungen ihren Seelenfrieden rauben. Wir waren noch Kinder, als wir zum ersten Mal mit dem Bösen in Berührung kamen, aber unsere Kindheit liegt Tausende von Jahren jenseits allen Menschengedenkens zurück. Sally hat ihre Narben vergessen, aber meine Wunden schwären immer noch. Ich habe Gott um Vergebung und das Geschenk des Vergessens gebeten, aber meine Gebete wurden nicht erhört. Ich scheide aus diesem Leben in der Gewissheit, dass ich hier in der Welt der Lebenden das Böse in seiner schlimmsten Form gesehen habe. Und diesem grausamen Los kann ich nur entrinnen, wenn ich mich eiligst in das verborgene Haus des Todes begebe.‹«
Als Bobby mit dem Vorlesen fertig war, hatte ich meine Brille gefunden und zitterte am ganzen Körper. Die Kälte, die mich schon in der Nacht von Madelines Selbstmordversuch hatte erschaudern lassen, kroch wieder in mir hoch, und ich spürte, wie tief in meinem Inneren eine schreckliche, undefinierbare Erinnerung, von der ich bisher abgeschirmt gewesen war, in mein Bewusstsein durchbrechen wollte.
Obwohl ich wusste, dass sich diese Erinnerung tief in meinem Inneren befand, hatte ich das Gefühl, als befände ich mich außerhalb von ihr und müsste mich mitten in der Nacht an einer dunklen Mauer entlangtasten und nach einer Öffnung suchen, durch die ich einen Blick auf die andere Seite der Mauer werfen konnte. Mit zitternden Händen nahm ich das Blatt Papier, das Bobby mir reichte, und las es sorgfältig durch: Gott hat Sally Druse mit einem sehr viel gnädigeren Gedächtnis gesegnet als mich … Wir waren noch Kinder, als wir zum ersten Mal mit dem Bösen in Berührung kamen …
Wieder hatte ich dieses schreckliche Gefühl, dass es eine Erinnerung gab, die sich mir immer wieder nur um Haaresbreite entzog, und nun, da ich kurz davor war, zu ihr vorzudringen, hielt ich inne und fragte mich, ob ich nicht besser damit aufhören sollte, blind in der Dunkelheit umherzutasten. Womöglich stieß ich damit auf irgendwelche fürchterlichen Dinge, die ich besser in Ruhe lassen sollte! Den zweiten Zettel hielt Bobby noch immer in der Hand.
»Und was steht auf diesem Blatt, Bobby?«
»Diesen Brief hat Ray mir einfach so gegeben, weil ihn seine Mom in der Nacht, als sie starb, an dich geschrieben hat. Als sie nämlich im Krankenhaus aufgewacht ist und seltsames Zeug über dich gebrabbelt hat, hat man sie gefragt, ob sie dir nicht eine Nachricht schreiben wollte, und das hat sie dann auch getan. Aber niemand ist daraus schlau geworden. Mrs.
Kruger muss durch die Tabletten, die sie geschluckt hat, total abgedriftet sein. Deshalb habe ich dich damals auch aus dem Krankenhaus angerufen.«
Der Brief war auf Krankenhausbriefpapier mit dem Briefkopf des Kingdom Hospital geschrieben, das man dort in jedem Nachttisch findet.
Mit großen, zittrig hingekrakelten Längsstrichen und gezackten Querstrichen hatte Madeline Folgendes geschrieben:
LIEBE SALLY: DAS KLEINE MÄDCHEN, DAS UNS GERETTET HAT, IRRT NOCH IMMER UMHER. ES IST WIEDER IM REICH DER LEBENDEN. DAS FEUER KONNTE IHM NICHTS ANHABEN. ES BRAUCHT UNSERE HILFE. KOMM SOFORT ZU MIR.
Ganz unten auf dem Blatt hatte sie mit ungelenker Kleinmädchenschrift unterschrieben:
MADDY KRUGER, 2. November 1939.
Wieder hatte ich das beunruhigende Gefühl, als träte ich gleich aus dem düsteren Wald des Vergessens auf eine Lichtung hinaus, ohne zu wissen, was mich dort erwarten würde. Eine Hexe? Ein Kobold? Ein frisch ausgehobenes Massengrab?
»Im Brandfall Scheibe einschlagen«, sagte ich.
Bobby sah mich an wie ein Kaninchen, wenn es blitzt.
»Wovon redest du überhaupt, Mom?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Keine Ahnung, warum ich das gesagt habe. Es ist mir in jener Nacht in den Sinn gekommen.«
Bobby verdrehte die Augen und
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