Das Tagebuch der Eleanor Druse
okay?«
»Nur zu!«, antwortete ich.
Ich konzentrierte mich auf meine Meditation und versuchte, so schnell wie möglich in den starken, aber sanften Strom knapp unterhalb des gewollten Wahrnehmens einzutauchen.
»Mrs. Druse, wir wären so weit. Sie dürfen sich jetzt nicht bewegen, das ist ganz wichtig. Schaffen Sie das?«
»Und ob. Ich werde nicht mal den kleinen Finger rühren.«
Ich blickte hinauf zu den Buchstaben und Zahlen, als wären sie eine vom himmlischen Licht erleuchtete Geheimschrift.
Obwohl ich nicht einmal blinzelte, veränderten sie sich direkt vor meinen Augen in irisierende und immer neue, okkulte Symbole und Kryptogramme. Es war, als würden die von dem Gerät erfassten Daten auf einem digitalen Display vorüberhuschen.
Ich schloss die Augen und spürte, wie ich im materiellen Universum verschwand. Seit ich erwachsen war, hatte ich mich in Yoga und Meditation geübt und mich damit abgemüht, den steilen Gipfel mystischer Selbsttranszendenz zu erklimmen.
Und ausgerechnet in diesem Magnetresonanztomographen erreichte ich ihn tatsächlich: meinen ersten außergewöhnlichen Bewusstseinszustand. Die Grenze zwischen mir und dem restlichen Universum begann sich langsam aufzulösen. Ich war nicht mehr ich und schaute auf die Materie, sondern wurde zur Materie, die auf mich schaute. Auf einmal bemerkte ich die wohl durchdachte Perfektion, die hinter dieser banalen beigen Plastikröhre steckte. Genau wie ich war sie Teil der Ewigkeit.
Ich musste nichts tun oder sagen, nichts sein oder denken. Ich war. Ich war Brahman, das wahrhaft einzige absolute Wesen, von dem das gesamte Universum belebt und genährt wurde, und mit jedem Hauch meines Atems brachte ich ein neues Universum hervor.
Draußen am Bildschirm fächerte Michael Baxley meinen Schädel in mehrere Schnittebenen mit transparenten Farbklecksen auf, in Bilder, die anmuteten wie moderne Glasmalereien und die später von Radiologen und Neurologen analysiert werden würden, aber hier drinnen atmete ich ein wundervolles, unendliches Universum nach dem anderen aus.
Ich konnte es kaum erwarten, Bobby das alles zu erzählen, und ich achtete sorgfältig darauf, mich nicht zu bewegen, um die Gipfelbilder meiner spirituellen Laufbahn nur ja nicht zu verderben.
DER ABSCHIEDSBRIEF
Bobby gehört nicht unbedingt zu den Menschen, die einem viele Rätsel aufgeben. Als er in mein Zimmer kam und sich ohne seine schützende Zeitung auf den Stuhl neben meinem Bett setzte, wusste ich sofort, dass etwas im Busch war. Ich merkte es daran, dass ich ihn ansah und er wegschaute. Dann griff er in seine Manteltasche und zog zwei zusammengefaltete Blätter Papier heraus.
»Ich war mit Ray Kruger ein Bier trinken.«
»Guter Junge! Dann hast du also Madelines Abschiedsbrief?«
Auf Anhieb Erfolg zu haben gehörte nicht zu Bobbys Stärken. Er rutschte auf dem Stuhl herum und schaute aus dem Fenster.
»Ray sagt, dass Hilda, seine große Schwester, den Nachlass seiner Mutter verwaltet. Als Ray sie gefragt hat, ob ihre Mom vielleicht einen Abschiedsbrief hinterlassen hätte, wurde sie pampig und meinte, dass ihre Mom als Schriftstellerin ständig irgendwelches verrücktes Zeug geschrieben hätte, Horrorstorys und was weiß ich noch alles, unter anderem auch Geschichten über fiktive Figuren, die Abschiedsbriefe schrieben und Selbstmord begingen.«
»Aha. Dann musst du Hilda fragen, ob sie uns die letzte Geschichte ihrer Mom zu lesen gibt, in der eine Figur namens Madeline in einem Abschiedsbrief eine gewisse Sally Druse erwähnt und sich dann umbringt.«
»Mom, du weißt doch, wie religiös die Familie ist. Für die ist Selbstmord ein absolutes Tabuthema. Da könntest du Hilda genauso gut sagen, dass ihre Mom jetzt in der Hölle schmort.
Außerdem hat Ray gemeint, dass er sowieso niemandem den ganzen Abschiedsbrief zeigen würde. Er sagt, er wäre zu brisant. Er meint, seine Mom sei am Schluss ein psychisches Wrack gewesen.«
»Ich behaupte weder, dass Madeline sich umgebracht hat, noch, dass sie in der Hölle schmort oder ein psychisches Wrack war. Ich will nur wissen, was sie mir in diesem Abschiedsbrief geschrieben hat.«
»Genau das habe ich Ray auch gesagt«, erwiderte Bobby lächelnd. »Und ich habe ihn gefragt, ob er mir die Zeilen, die an dich gerichtet waren, nicht doch beschaffen könnte. Dann hat ihm seine Schwester den Brief gezeigt und er hat versucht, diese Passagen für dich abzuschreiben, als sie nicht hersah. Er weiß allerdings nicht, ob er alles
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