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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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mussten und meine Hoffnungen, jemals ein Enkelkind in meinen alten, gebrechlichen Armen wiegen zu können, in weite Ferne rückten.
    Bobby stellte meinen Rollstuhl vor den Aufzügen ab und drückte den Knopf nach unten. Als eine Glocke ertönte und über dem Aufzug 3 ein grünes Licht anging, schob er den Rollstuhl langsam in Richtung auf die sich öffnende Tür. Ohne nach vorn zu blicken, sagte er der Schwester hinter dem Tresen, dass er mich zurück auf die Neurologie bringen würde.
    Dann hörte ich, wie die Schwester einen warnenden Schrei ausstieß und sah, dass hinter der offenen Lifttür keine Aufzugkabine war, sondern ein düsterer Schacht aus nacktem Beton, fleckigen Schlackensteinen und rostigen Führungsschienen. Ich kannte diesen gähnenden Abgrund! Ich war schon einmal dort gewesen! Es war, als hätte jemand die Haut der materiellen Welt zerrissen, um unergründliche, entsetzliche, übernatürliche Geheimnisse zu enthüllen. Voller Entsetzen starrte ich hinab in den offenen Schacht, der meilenweit in die tiefe Dunkelheit einer ewigen Nacht hinunterzureichen schien.
    In einem Anfall von hilflosem Schwindelgefühl beugte ich mich nach vorn. Der Schacht war mir nur zu vertraut. Ich hatte ihn vor fast einem Jahr schon einmal gesehen, als ich fast gestorben wäre! Dem Tod so nah! Am 13. Dezember 2002.
    Vollmond. Freitag, dem dreizehnten!
    Die Aufzugkabine war nirgendwo zu sehen. Wie ich später erfuhr, steckte sie irgendwo über uns fest und wurde von Aufzugmonteuren gewartet.
    Ich beugte mich noch immer über den dunklen Abgrund, konnte den Blick nicht davon losreißen und spürte, wie Poes Alb der Perversheit mit seinen elektrische Impulse verströmenden Klauen an meiner Wirbelsäule emporkletterte und mir zuflüstere: »Spring, Sally!« Es gibt in der ganzen Natur keine Leidenschaft von so dämonischer Gewalt, wie sie ein Mensch empfindet, der schaudernd am Rande eines Abgrunds steht und solcherart dann einen Sprung erwägt!
    Hin- und hergerissen zwischen Schrecken und Verzückung starrte ich in diese höllische Kluft, die ich vor so vielen Monaten in einer fantastischen Halluzination emporgeschwebt war. Und hier und jetzt, mitten am helllichten Tag, hatte ich abermals eine Vision, die nicht von dieser Welt war. Ich stellte mir so lebhaft vor, aus dem Rollstuhl zu springen und in eine schier endlose Tiefe zu fallen, dass ich mich fragte, ob ich den waghalsigen Sprung vielleicht schon getan hatte. Ich wagte nicht aufzusehen, vor lauter Angst, in diesem dunklen Tunnel noch einmal nach oben gewirbelt zu werden, den furchteinflößenden Wächter zu sehen und die Stimme des armen Mädchens zu hören, das aus dem Reich der ewigen Verzweiflung nach mir rief.
    Noch bevor es mir gelang, all meinen Mut zusammenzunehmen und nach oben zu blicken, hatte Bobby den Rollstuhl mit seiner Mom schon vom Rand des Abgrunds zurückgezogen.

AUFZUG 2, ABWÄRTS
    Ich zitterte am ganzen Körper und sehnte mich nach meinen Notizheften, um die Offenbarung, die sich soeben zu meinen Füßen auf getan hatte, in allen Einzelheiten festhalten zu können. Mochten die Ärzte von mir aus behaupten, dass ich unter einem seltsamen neurochemischen Ungleichgewicht, den Folgen einer Gehirnprellung, seniler Demenz oder Alzheimer litt: Jetzt wusste ich, dass das nicht stimmte. Der Aufzugschacht, in den ich gerade geschaut hatte, war bis hin zu den rostigen Führungsschienen und den fleckigen Schlackensteinen haargenau derselbe gewesen, den ich auf meinem Nahtod-Flug vor fast einem Jahr hinaufgeschwebt war. Ich wollte ihn noch einmal sehen und jedes Detail mit dem in meiner Erinnerung vergleichen, andererseits verspürte ich auch instinktiv ein großes Bedürfnis danach, mich in die Sicherheit des Gewohnten und Vorhersehbaren zurückzuziehen. Vielleicht setzt ja ab siebzig eine gewisse Verblödung ein, oder das Ganze war reiner Zufall – wahrscheinlich gab es in allen Aufzugschächten dieselben Schlackensteine und Führungsschienen. Am Ende aber überwog das köstliche Hochgefühl, mit dem Unbekannten in Berührung zu kommen, alle meine Zweifel. 
    Zum zweiten Mal war ich bereits an einer Art Schnittstelle angekommen, einem Korridor ins Jenseits oder zumindest einer Grenzregion zwischen diesem Leben und dem nächsten.
    Es war das, was Swedenborg als ersten Zustand des Menschen nach dem Tod bezeichnet hat. Und plötzlich kam mir die sichtbare Welt viel energiegeladener vor. Alles, vom Anstrich der Wände bis hinunter zum Marmorboden der

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