Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Nähe der Kabinenwand zu liegen gekommen war, konnte ich Madeline Krugers Namen erkennen. Auch hier sah ich den Stempelaufdruck, dessen Farbe mich jetzt an jahrzehntealtes Blut erinnerte: NICHT VERNICHTEN! FORSCHUNGSSTUDIE DR. GOTTREICH.
    Die Aufzugkabine kam so abrupt zum Stehen, dass ich einen Riesenschreck bekam. Obwohl ich Hilda Krugers Mappe fest umklammert hielt, spürte ich, wie mir einige Blätter daraus auf den Schoß rutschten.
    Die Alarmglocke schrillte kurz auf, dann herrschte Totenstille. Das Licht ging aus, aber kurz darauf erwachte eine der Leuchtstoffröhren mit leisem Brummen wieder zum Leben und tauchte das Innere der Aufzugkabine in ein graugrünes Dämmerlicht. 
    Ich schaute nach oben und sah, dass die Deckenplatte noch ein Stück weiter verrutscht war und durch eine dreieckige Öffnung den Blick in den dunklen Aufzugschacht freigab.
    Die Unterlagen in meinem Schoß waren vergilbte, langsam zerfallende Ausschnitte aus alten Zeitungen. Einer davon war ein Artikel aus einer medizinischen Fachzeitschrift von Dr. med. Dr. phil. E. Gottreich mit dem Titel »Psychochirurgische Eingriffe zur Behandlung von chronischen, behandlungsresistenten Schmerzen«, aber es waren auch Ausschnitte aus Boulevardblättern und großen, überregional erscheinenden Tageszeitungen dabei. Sie trugen Überschriften wie »Die Psychochirurgie hat mich geheilt« (hier wurde Dr. Gottreichs Name in einem separaten Kasten mit Zusatzinformationen erwähnt) oder »Wundermittel Psychochirurgie – Schon 50 psychisch Kranke völlig geheilt«.
    Ein anderer Ausschnitt mit dem Titel »Nicht schmerzhafter als Zähneziehen« handelte von Verfahren, mit denen Dr. Gottreich und einige andere Neurologen und Psychologen von sich reden gemacht hatten. »Wunderheilung durch Psychochirurgie macht Narkose und sterilen OP überflüssig.«
    Auf einem grobkörnigen Schwarzweißfoto war ein Arzt in einem weißen Laborkittel und mit hochgeklapptem Stirnspiegel zu sehen, der sich, umgeben von Ärzten und Schwestern in Straßenkleidung, über einen mit offenen Augen daliegenden Patienten beugte und ein spitz zulaufendes, mit einem Griff versehenes Stahlinstrument in Händen hielt. Die Bildunterschrift lautete: »Dr. Eb Gottreich aus Lewiston: ein Pionier auf dem Gebiet der Psychochirurgie.«
    Als ich zum nächsten Zeitungsausschnitt griff, zitterten meine Hände auf einmal so stark, dass ich meine Ellbogen auf den Armlehnen des Rollstuhls abstützen musste, während ich auf einem gut sechzig Jahre alten Foto direkt in die Augen von Dr. Ebenezer Gottreich blickte. 
    Der Mann auf dem Foto war Dr. Rattentod, war Mr. Willst-du-wissen-was-Liebe-ist? höchstpersönlich, der sich in der Stationszentrale der Psychiatrie seine Tabletten abgeholt hatte.
    Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Und warum konnte ich mich auch jetzt nur noch nebulös an ihn erinnern?
    Auf dem Foto, das 1939 in der Lewiston Daily Sun erschienen war, posierte er vor einem alten Backsteingebäude, auf dem eine Tafel verkündete: »Gottreich Hospital: Errichtet im Jahr 1870.« Es war das alte Krankenhaus, das 1939 genau an dem Tag niedergebrannt war, den Madeline als Datum unter ihren Abschiedsbrief gesetzt hatte, und in dem man uns zuvor wegen Keuchhustens behandelt hatte. Heute wurde es nur deshalb als das »alte Kingdom« bezeichnet, weil man über seinen Ruinen das heutige Kingdom Hospital errichtet hatte.
    Vor dem Brand trug es den Namen der Arztfamilie Gottreich, in deren Auftrag es im 19. Jahrhundert errichtet worden war.
    Transport Italien Lokomotive. Sally Druse, du verrücktes, altes Huhn, warum fallen dir immer wieder diese Wörter ein?
    Ich sah mir noch weitere Zeitungsartikel an, mit und ohne Fotos von Gottreich, darunter auch einen aus dem Jahr 1939
    mit der Überschrift: »Zwei Tote bei Krankenhausbrand.«
    Der Aufzug steckte noch immer fest, und die Neonröhren begannen erneut zu flackern. Erst war es still, aber dann hörte ich wieder die Stimme des Mädchens, lauter als jemals zuvor.
    Klar und deutlich. Es hörte sich an, als wäre die Kleine direkt auf dem Dach der Kabine und versuchte, mich über Zeit und Raum hinweg mit ihrem markerschütternden, unartikulierten Schreien zu erreichen, so, als ob es ihr die Sprache verschlagen hätte und sie ihr Flehen nur noch wortlos intonieren könnte: Warum muss ich, ein unschuldiges Kind, so schrecklich leiden?
    Aber kam die Stimme des Kindes nun aus meinem Inneren oder von außen? 
    Die Antwort darauf würde mir das

Weitere Kostenlose Bücher