Das Tagebuch der Eleanor Druse
jetzt. Jetzt war es noch zu verletzt und zu ängstlich und konnte nur weinen.
Auf einmal hörten wir, wie hoch oben in der Dunkelheit des Schachts eine Glocke läutete.
»Komm, Sally«, sagte Maddy. »Wir müssen zu Dr. Gottreich.«
»Nein«, sagte ich und fing an zu weinen. »Ich will nicht.«
Maddy weinte ebenfalls. Die dunklen Ringe unter ihren tief in ihren Höhlen liegenden Augen waren ganz nass von Tränen.
»Ich will auch nicht«, sagte sie. »Aber wir müssen. Er ist der Doktor. Du musst jetzt zu ihm gehen. Du musst dich jetzt an ihn erinnern, damit du ihn wieder vergessen kannst. Weißt du noch, was er dir angetan hat?«
Als Maddy meine Hand nahm, hatte ich das Gefühl, als würden ihre nackten Knochen mich packen.
»Es ist zu spät, Sally. Du musst zu ihm gehen. Du musst dich an ihn erinnern, damit du ihn vergessen kannst.«
Ich hustete und machte mir einen dicken Knoten in mein Krankenhaushemdchen. Auch Maddy bekam einen Hustenanfall.
Wir hielten uns aneinander fest, während uns eine Schwester durch den Keller des alten Gottreich Hospital führte. Der Keller kam mir vor wie ein Grabmal, das man vor langer Zeit versiegelt hatte und das wir nach vielen Jahren als Erste erneut betraten. An den von Flechten, Grünspan und Schimmel überzogenen nassen Steinwänden klebten feuchte Spinnweben und der Schmutz von Jahrhunderten, von aus den Angeln gehobenen Türen hingen lange Barte aus Moos herab.
Schließlich kamen wir zu einer schweren Holztür mit einem kaum noch lesbaren Schild, auf dem SCHMERZRAUM stand.
Der Raum hieß so, weil dort Dr. Gottreich seine Experimente darüber anstellte, wie man Schmerzen ausschalten konnte.
»Jetzt geh hinein, Sally«, sagte die Schwester. »Maddy und ich werden dich bald wieder abholen.«
Der Schmerzraum.
Jedes Mal, wenn Maddy oder ich hierher kamen und das Schild lasen, sagten wir uns leise: »Keine Angst, der Raum heißt nur so, weil sie dort untersuchen, warum etwas wehtut und was sie machen können, damit es weniger wehtut.«
Ich erinnerte mich daran, dass wir einmal, genau wie jetzt, den Gang entlanggegangen und schon kurz vor dem Schmerzraum gewesen waren, als plötzlich das Licht ausgegangen war. Hier unten im Keller war es stockdunkel gewesen, und wir hatten uns an der schwarzen Wand entlangtasten müssen, bis wir die Tür zum Schmerzraum gefunden hatten.
Erst als wir die Tür aufgedrückt hatten, konnten wir wieder etwas sehen, weil Dr. Gottreich, der drinnen auf uns wartete, eine Kerze angezündet hatte.
GOTTES REICH
DER SCHMERZRAUM
DR. GOTTREICHS LÄCHELN SCHIEN ganz aus grauen Zähnen zu bestehen. Er trug einen Stirnspiegel und einen grünen Pyjama und manchmal auch eine grüne Stoffmütze.
Das Gottreich Hospital war nach seinem Vater benannt, der hier ebenfalls wichtige Schmerzforschung betrieben hatte.
Obwohl Dr. Gottreich schon fast eine Vollglatze hatte und mir ziemlich alt vorkam, schien er im Herzen jung geblieben zu sein. Er hatte funkelnde Augen und war sehr umgänglich und freundlich – besonders zu unseren Eltern. Sobald sie aber weg waren, benahm er sich wie kein anderer Erwachsener, den wir kannten.
Er sprach mit uns Kindern wie mit Erwachsenen, und er machte sich über andere lustig, manchmal sogar über unsere Eltern, und sagte Dinge, die wir zwar dachten, aber nicht zu äußern wagten, schon gar nicht vor Ärzten oder Pfarrern.
»Da ist sie ja, meine kleine Sally Druse«, sagte er. »Na, wie fühlen wir uns?«
Im Schmerzraum roch es immer nach Jod und Kampfer, und außerdem lag ein süßlicher und gleichzeitig öliger Geruch in der Luft, der an verfaulte Früchte und Terpentin erinnerte.
Dieser Geruch hing in den Kleidern des Doktors ebenso wie in den Laken und Tüchern. Hier unten im Keller mit seinen Steinwänden war es immer feucht und kalt.
An der hinteren Wand des Raums befanden sich durch gewundene Schläuche miteinander verbundene Bechergläser, unter denen kleine Gasflammen brannten, sowie hohe Glasbehälter mit irgendwelchen Präparaten darin.
Direkt neben der Tür, durch die ich eingetreten war, stand ein verglaster Schrank, in dem sich ein aufgerollter Leinwandschlauch und eine rote Axt mit einem Kopf aus glänzendem Stahl befanden.
In roten und schwarzen Buchstaben stand auf dem Glas: IM BRANDFALL SCHEIBE EINSCHLAGEN.
Dr. Gottreich klopfte mit der flachen Hand auf den gepolsterten Untersuchungstisch.
»Komm, hüpf rauf.«
Er half mir auf den Tisch und öffnete mein Krankenhaushemd am Rücken,
Weitere Kostenlose Bücher