Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
für ein Monster bin ich eigentlich?
Laute Stimmen dringen durch die Tür ins Verhörzimmern. Seal dreht sich nach hinten, die beiden Männer zucken mit den Schultern. Kurz darauf wird die Tür aufger issen. Ein Mann steht davor, hält eine Pistole vor seiner Brust und zielt auf die beiden Männer. Tränen rinnen über seine Wange. Sein Körper bebt, als er an den Männern vorbeigeht und sich neben den Spiegel stellt.
Er kommt mir bekannt vor. Vermutlich ist er der Vater eines der Mädchen. Und vermutlich ist er gekommen, um jetzt endgültig mit mir abzurechnen.
»Verschwindet!«, brüllt er und zielt zuerst auf Seal, dann auf die beiden Männer, die rücklings mit erhobenen Händen aus dem Zimmer gehen.
Seal steht langsam auf. »Brighton, das macht dein Mädchen auch nicht mehr lebendig.«
Melissa Brighton . Das Mädchen aus dem Sarg. Dieser Mann hat keine Hoffnung mehr, seine Tochter lebend wiederzusehen. Er will nur noch eines: Dem Mörder in die Augen blicken und ihn dann seiner eigenen Gerechtigkeit zuführen. Und er hat dafür mein vollstes Verständnis.
»Dieses Schwein soll in der Hölle schmoren«, zischt er und zielt auf Seal. »Raus hier! Mir ist es egal, wen ich abknallen muss, um diesen Arsch krepieren zu sehen.«
»Hör zu, Brighton. Es ist nichts bewiesen. Es sind nur Indizien. Lass uns die Zeit, die ganze Wahrheit herauszufinden. Vielleicht sind die drei Mädchen noch zu retten.«
»Retten? Die hat er doch schon längst verbrannt! Der wartet doch nur darauf, sie in irgendwelchen Häusern oder Autos zu deponieren. Nein , Seal – da gibt es keine Rettung mehr. Die Mädchen sind verbranntes Fleisch. Und ich erspare den Eltern den Anblick ihrer Töchter, wenn sie nicht erfahren, wo sie die Reste ihrer Kinder finden. Vielleicht können sie dann irgendwann wieder schlafen! Ich kann es nicht! Nicht, solange dieses perverse Schwein am Leben ist. Und jetzt raus, Seal! Verschwinde!«
»Mach dich nicht unglücklich! Willst du für diesen Mann in den Knast gehen, für die nächsten zehn Jahre? Glaubst du, dass du dich dann besser fühlst?« Seal geht mit erhobenen Händen auf den Mann zu. Melissas Vater zielt auf Seals Brust. Die Hände zittern. »Nimm die Waffe runter und wir reden in Ruhe über alles.«
Brighton senkt die Waffe. Die Lippen zucken. Wieder rinnen Tränen aus den Augenwinkeln.
»Ja«, sagt er. »Reden wir.«
Blitzschnell hebt er die Waffe, zielt auf mich – und drückt ab. Zweimal. Dreimal. Viermal. Wieder und wieder.
Die Wucht der Treffer lässt mich zurückzucken. Ich spüre keinen Schmerz, obwohl ich weiß, dass die Kugeln meinen gesamten Oberkörper zerfetzen und meine Gedärme in Stücke reißen. Ich spüre nur, wie die Kraft mich verlässt und ich seitlich vom Stuhl falle. Immer noch feuert Melissas Vater auf mich. Das Zimmer verschwimmt vor meinen Augen. Ich höre nur noch die Schüsse und spüre , wie die Geschosse in meine Brust eindringen. Dann ist es still. Dunkel und still.
Ich fühle Frieden in mir. Frieden und Harmonie, als wäre das Böse von mir abgefallen wie tonnenschwere Felsbrocken, die in die Tiefe donnern und mir das Gefühl geben, zu schweben. I ch sehe Bilder. Keine Horror-Bilder, wie Any sie mir geschickt hatte, sonder n die Bilder meines Lebens, a ls hätten die Schüsse nicht nur meinen Körper zerstört, sondern auch diese Barriere in meinem Gehirn. Millionen von Eindrücken stürzen auf mich ein. Alle gleichzeitig und doch so, dass ich jede einzelne Erinnerung klar differenzieren kann.
Viele Bilder sind mir bekannt. Sie spiegeln das Verhör und meine Geschichte wieder, die ich Seal erzählt habe. Sie zeigen, wie ich im Atelier das gesichtslose Mädchen gemalt habe, wie ich in das Tagebuch zeichnete, immer wieder das gleiche Bild. Wie ich in Hillers Büro saß und die Fotos der Mädchen ansah. Wie ich auf Hart-Island die Leiche meines Vaters anstarrte, wie Dave und ich das Haus meines Vaters durchsuchten und auf das Atelier stießen. Wie ich in meinem Appartement die Zeichnungen von den Mädchen gefunden hatte. Wie ich im Pilgrim mit Doktor Overlook über meinen Gedächtnisverlust und meinem Vater gesprochen hatte. Wie ich in der Feuerwache war und mit Daves Hilfe die Zusammenhänge zwischen den beiden Morden herausgefunden habe. Wie ich die Redaktion der New York Times aufgesucht und die Fotos von dem Mädchen in dem Sarg betrachtet habe. Wie ich bei Hearing im Büro war und die Puppe auf dem Bild mit Patricia entdeckt habe. Wie Dave mich aus dieser
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