Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
meiner Vermutung richtig lag, verriet mir ein leises Knarzen. Ich kannte es, da ich es dreimal gehört hatte – als ich hastig die offenen Schranktüren geschlossen hatte. Demnach hatte der Mann soeben hinter der ersten Tür nachgesehen. Wieder knarzte es. Nummer zwei. In einer Sekunde würde er mich entdeckt haben.
Ich atmete tief ein.
Sie werden dich kriegen, Jack. Und dann werden sie dich töten.
Niemand wird mich töten. Warum sollten sie?
Aber das weißt du doch, Jack.
Die Helligkeit blendete, doch konnte ich die Überraschung im Gesicht meines Gegenübers deutlich erkennen. Gefolgt von dem Schmerzensschrei, als meine Faust gegen sein Nasenbein donnerte. Er wankte nach hinten, fiel auf das Bett. Ich stürzte mich auf ihn und erkannte erst jetzt die Waffe in seiner Hand. Mit dem linken Knie fixierte ich die Schusshand, meine Finger krallten sich um den Hals. Blut rann über seine Lippen.
»Was wollt ihr von mir?«, brüllte ich. Trotz der Panik und dem Schmerz in meinem Bein war mir bewusst, dass der Komplize jeden Moment zurückkommen würde. S pätestens dann war meine Situation aussichtslos.
Ich drückte meine Finger gegen die Kehle des Mannes. »Was wollt ihr?«, schrie ich ein weiteres Mal.
Der Mann starrte in mein Gesicht. Die Lippen zitterten. Ich zog mein verletztes Bein nach und versuchte den zweiten Arm zu fixieren. Offenbar hatte der Gegner meine Achillesferse erkannt. Er zog den Arm zurück, und noch bevor ich ihn fassen konnte, donnerte seine Faust gegen meinen Oberschenkel. Für eine Sekunde raubte mir der Schmerz die Sinne. Vermutlich auch das Bewusstsein, da ich von einem Moment zum anderen in die Mündung der Waffe blickte.
»Wo sind sie?«, zischte der Mann und wischte mit dem Handrücken über seine Oberlippe.
Ich schüttelte den Kopf. Unbewusst. Vermutlich weigerte sich mein Gehirn, diese Situation als real anzuerkennen. Ich lag in meinem Bett, in meiner Wohnung, in der offenbar ein reges Kommen und Gehen herrschte. Eine Pistole war auf meinen Kopf gerichtet. Ein hagerer Mann in schwarzem T-Shirt, mit kurzen dunklen Haaren und Jeans saß auf meinem Bauch und stellte mir eine Frage, von der er offenbar erwartete, dass ich die Antwort kannte.
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, presste ich durch die Lippen.
»Ich werde dir deine Eier in Streifen schneiden, Arschloch, wenn du mir nicht augenblicklich sagst, wo sie sind.«
»Wer?«, brüllte ich und versuchte mich aufzubäumen. Der Mann zuckte kurz zurück. » Wer soll wo sein?«
Die Schusshand begann zu zittern. Das Klingeln des Fahrstuhls hallte durch den Korridor. Der Mann blickte nach hinten. Meine Finger krallten sich um den Lauf der Pistole, drückten die Waffe von meinem Kopf fort. Ich bäumte mich auf , fasste den Arm des Mannes , zog daran, bis er seitlich von mir kippte. Ein Tritt gegen meinen Oberschenkel. Ich schrie. Doch anstatt das Bewusstsein zu verlieren, stieg Zorn in mir hoch. Meine Faust donnerte abermals gegen seine Nase. Er drückte die Waffe in meine Richtung – mit einer Kraft, die ich ihm anhand seiner Statur nicht zugetraut hätte. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Ich schlug die Waffe nach unten. Ein Schuss. Ich erstarrte. Der Mann ebenfalls. Ich rollte seitlich weg. Blu t floss aus seiner Lende . Die Augen weit geöffnet. Der Blick leer.
Ich griff nach der Waffe, sprang aus dem Bett, presste mich gegen die Wand und horchte. Jemand musste in die zehnte Etage gekommen sein. Und dieser jemand hatte den Schuss gehört. Wenn es der Komplize gewesen war, dann war er gewarnt. Er würde nicht in das Appartement stürmen. Er würde warten, bis ich in seine Schusslinie kam. Und falls es ein Nachbar gewesen war, dann war mittlerweile die Polizei alarmiert und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie hier eintraf. So oder so – ich saß in der Falle.
Ich schob mich die Wand entlang und schaute kurz in den Vorraum . Nichts. Sobald ich den Dielenboden betrat, wusste ein potentieller Killer anhand der Geräusche, wo ich mich befand. Ich musste schnell und entschlossen handeln. Meine tobende Wunde, in der jeder Pulsschlag einen stechenden Schmerz auslöste, war mir dabei keine große Hilfe.
Mein Ziel war das Eck zur Eingangstür . Ich hielt die Pistole vor meine Brust und sprang mit zwei Sätzen durch die Diele. Mein Blick fokussierte die Kante. Jede verdächtige Bewegung würde ich mit einem Schuss quittieren. Doch das war nicht nötig. Am Eck angekommen, lugte ich zur Wohnungstür.
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