Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
ob er seine Information bekommen hatte – lag zwischen einem riesigen Nagel und einer gebogenen Säge eine Pistole. Vielleicht war es sogar die Waffe, die ich bei mir getragen hatte. Ich war davon überzeugt, dass er mich damit erlösen wollte. Als kleines Dankeschön – nachdem ich ihm die gewünschten Informationen mitgeteilt hatte.
Allein die Vorstellung, wie dieses Arschloch eine der Sägen an meine Gliedmaßen ansetzte, ließ meine Muskeln sich spannen. Nein. Ich würde nicht davonlaufen und fliehen wie ein Schwein, das glücklicherweise dem Schlächter entkommen war. Ich würde den Spieß umdrehen. Ich würde diesen Sadisten töten. Langsam und qualvoll. In wenigen Sekunden würde seine ganz persönliche Hölle losbrechen. Und ich würde ihn nicht erlösen.
Der Mann stand schneller, als ich es erwartet hatte. Ich sprang auf ihn zu und stieß ihn abermals nach hinten. Er donnerte gegen einen Metallschrank, der wie ein überdimensionales Postfach in einem Mietshaus aussah. Erst jetzt wurde mir klar, wo er mich hingebracht hatte. In einen Kühlraum, wo die Leichen bis zum Abtransport aufbewahrt wurden . In einer dieser Laden lag ve rmutlich mein Bettnachbar. Der Arzt hatte bestimmt schon eine für mich reserviert.
Ich trat einen Schritt zurück und griff nach der Pistole. Der Arzt hob augenblicklich seine Arme in die Höhe und blickte in den Lauf. Ich hielt ihn zitternd auf seinen Kopf gerichtet.
Wieder befiel mich dieser Zorn, resultierend aus der Vorstellung, was der Mann mit dem Werkzeug alles mit mir angestellt hätte. Wahrscheinlich hätte er mir einen Arm nach dem anderen abgesägt und mir nach jedem abgetrennten Körperteil die Chance gegeben, ihm die Antwort auf seine Frage zu geben.
Wo sind sie?
Doch j etzt standen die Dinge anders.
»Du warst es, der mir in den Obers chenkel geschossen hat«, sagte ich, ohne zu wissen, ob er es tatsächlich gewesen war. Aber ob nun er oder einer seiner Killer-Freunde geschossen hatte, spielte keine große Rolle.
Er starrte mich kurz entsetzt an und lenkte seinen Blick wieder zum Lauf der Pistole.
»Oder?«, setzte ich nach. Mit großem Erstaunen registrierte ich ein Nicken. Ich war von der Antwort dermaßen überrascht, dass meine Lippen ein ungläubiges Lächeln formten. Ich schüttelte den Kopf. Das war eine Sekunde, bevor mir klar wurde, dass ich all die Schmerzen und Ängste diesem Mann zu verdanken hatte. Kalter Hass kroch an mir hoch. Ohne weiter nachzudenken, zielte ich auf seinen rechten Oberschenkel und drückte ab. Ein helles Ploppen durchschnitt den Raum. Meine Hand wurde zurückgestoßen. Der Mann schrie auf, presste die Hand auf den Oberschenkel, kippte zur Seite und fiel längsseits auf den Boden.
»Auge um Auge«, zitierte ich und zielte wiederum auf seinen Kopf. »Auf mit dir!« Ich deutete mit der Waffe zum Metalltisch.
Der Mann krümmte sich, verzog sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Auf seinem Oberschenkel zeichnete sich ein dunkelroter Fleck unter den Fingern ab.
»Ich … kann … nicht«, stöhnte er.
»Doch«, antwortete ich. »Aus Erfahrung weiß ich, dass das geht. Und jetzt los!« Ich zielte auf den anderen Oberschenkel. »Bevor es tatsächlich nicht mehr geht.«
Der Arzt drehte sich seitwärts und zog sich am Metallkasten hoch. Seine Hand hinterließ einen blutigen Abdruck an einem der Ladengriffe. Mit leisem Stöhnen schaffte er es aufzustehen.
»Und jetzt zum Tisch!«
Er blickte an mir vorbei zum Metalltisch, als müsste er die Zielkoordinaten in seinem Gehirn einspeichern. Dann ging er los. Einen Moment lang dachte ich, dass er nach dem ersten Schritt stürzen würde, aber begleitet von schmerzvollem Stöhnen erreichte er den Tisch und stützte sich darauf ab.
»Hinauflegen!«
Er nickte nur. Offenbar hatten die Anstrengung und der Schmerz jeglichen Widerstandsgedanken gebrochen. Er rollte seinen Oberkörper auf den Tisch und zog das verletzte Bein nach. Schließlich lag er auf dem Rücken. Schweiß stand ihm trotz der Kälte auf der Stirn. Das verletzte Bein zitterte. Wieder presste er seine Hand auf die Wunde. Der Blutfleck hatte beinahe den gesamten Oberschenkel überzogen.
Wie er so vor mir lag, tat er mir leid. W ieder hatte ich dieses schlechte Gewissen. Es wuchs mit nachlassendem Zorn. Selbst ein Blick auf das Silbertablett ließ es nicht verschwinden. War er vor einer Minute noch ein sadistisches Arschloch gewesen, hielt ich ihn jetzt für ein armes Schwein, das vor mir auf der Schlachtbank lag und nur
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