Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
darauf wartete, dass ich ihm den Druckluftkolben in die Stirn jagte.
Ich schüttelte den Kopf. »Wieso?«, fragte ich ihn, ohne mir tatsächlich eine Antwort zu erwarten. Blut quoll durch seine Finger. Seine Hand zitterte. Er hatte die Augen geschlossen und die Lippen fest aufeinander gepresst. Dieser Mann war mit seinem Schmerz beschäftigt und verschwendete keinen Gedanken daran, sich in welcher Form auch immer zu wehren.
Ich ließ die Waffe sinken.
»Was wollt ihr von mir?« Kurz flammte Zweifel in mir auf. Was, wenn dieser Mann ein Regierungsbeamter war? Nein. Ganz egal, welcher Institution er angehören könnte – keine von ihnen hatte es nötig, nachts in Krankenhäuser zu schleichen, und in Leichenkühlräumen Menschen zu foltern. Dieser Mann war kein Regierungsbeamter. Er war ein Killer. Ein Killer, der sich auf dem Tisch vor Schmerzen wand.
»Das … weißt … du … doch … ga … « Er sprach nicht weiter. Nur ein gepresstes »Shit« kam durch seine Lippen.
»Ich habe keine Ahnung!« Ich brüllte die Worte. Aus Zorn. Und Verzweiflung. Ich fühlte diese Ohnmacht, dass dieser Mann – diese Männer – davon überzeugt waren, ich würde irgendetwas wissen. Irgendetwas derart Wichtiges, dass sie dafür foltern und töten würden. Irgendetwas, das die Frage Wo sind sie? beantworten würde. »Ich weiß nicht, wo sie sind!« Ich erschrak, als ich bemerkte, dass ich völlig unbewusst einen Schritt auf den Mann zu gemacht hatte und ihm den Lauf der Pistole gegen die Stirn presste.
»Melissa … Brighton«, murmelte er.
»Was?« Es war ein Name. Ohne Zweifel. Aber wozu sagte er ihn mir?
»Brenda … Williams.«
»Was soll das?«
Ich drückte die Waffe fester gegen seine Schläfe. »Was willst du mit diesen Namen?«
Er drehte den Kopf zur Seite. Die Haut an seiner Schläfe zeigte einen kreisrunden roten Fleck. »Peggy-Sue Andrews.«
Jacky, spiel mit uns!
Die Waffe schien plötzlich tonnenschwer zu sein und zog meinen Arm nach unten.
»Vivian … Hamada.« Tränen flossen aus seinen Augen. Er drehte den Kopf zu mir und blickte mir fest in die Augen.
Mach die Tür auf! Bitte! Mach die Tür auf! Und spiel mit uns.
»Ich weiß nicht, wovon Sie … du … « Ich trat einen Schritt zurück. Auch wenn ich mit den Namen nichts anfangen konnte, wusste ich es dennoch. Es waren sie . Es waren die Mädchen. Hinter der Tür. »Ich habe den Schlüssel nicht … « stotterte ich, erschrak vor meinen Worten und ging einen weiteren Schritt zurück in Richtung Tür.
»Sag uns … wo sie sind.« Der Mann hob den Kopf. Seine Augen waren nass, die Mundwinkel zitterten.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo … «
»Wir wollen sie wenigstens beerdigen können!«
»Ich weiß es nicht!« Ich tastete mich durch den Türstock.
»Ich will mich von meiner Tochter verabschieden können! Verstehst du das nicht?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon … Ich muss ein Mädchen retten … Patricia … ich habe keine Zeit mehr. Ich … ich … Ich weiß nichts von Ihrer Tochter … oder von anderen Mädchen.«
Ich habe keinen Schlüssel, Any. Ich kann diese Tür nicht öffnen!
Die Pistole glitt aus meinen Fingern, schlug auf den Fliesen auf. Ich erschrak. Schüttelte den Kopf. »Ich … weiß … nichts.« Eine Träne rann über meine Wange. Ich wollte sie fortwischen, aber mir fehlte die Kraft. Dann drehte ich mich um und rannte.
Ein endloser Gang. Vereinzelt zogen schwache grüne Leuchten an mir vorüber. Meine Schritte hallt en. Das rechte Bein schmerzte, a ber das spielte keine Rolle. Ich musste laufen. Fort von hier. Fort von diesem Wahnsinn. Weit fort von diesen Namen. Unendlich weit fort von den Mädchen hinter dieser schwarzen Tür.
Ich hoffte, d er Gang würde nie enden. Aber er endete. Stufen führten aufwärts. Heller Schein drang über die T reppe nach unten. Ich stoppte, h at te Angst ins Licht zu steigen, f ürchtete mich davor, was es zum Vorschein bringen würde.
Öffne die Tür, Jacky. Und sieh‘ die Wahrheit.
Ich wollte diese Tür nicht öffnen. Denn ich wusste, was sich dahinter befand. Ich wusste, dass die Wahrheit, von der Any sprach, keine schöne Wahrheit war. Es war eine schreckliche Wahrheit. Und es war gut, dass sie hinter dieser schwarzen Tür eingeschlossen war.
Aber diese Wahrheit hatte nichts mit mir zu tun.
Davon war ich überzeugt.
16
Obwohl es lange nach Mitternacht war, herrschte reges Treiben auf der Straß e . Menschen hasteten an mir vorbei, der eine oder andere blickte
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