Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Treppe zu setzen. Etwas in mir warnte mich, hinauf in die Dunkelheit zu steigen. Eindringlich, als würde die Wahrheit, die ich entdecken würde, Gefahr ausstrahlen. Gefahr für mein Leben.
Es ist doch nur ein Traum, Jacky.
Ich vertraute Any. Aber was, wenn sie sich irrte? Wenn dies kein Traum war? Wenn dies alles wirklich geschah? Wenn diese Wahrheit mir nur zeigte, dass ich mich in der Hölle befand, aus der es kein en Ausweg gab ?
Tommy winselte. Er stieg die Treppe herab und wedelte mit seinem Schwanz. Tommy würde mich nicht in Gefahr bringen. Nein. Niemals. Tommy würde mich beschützen. Tommy würde mich aus jeder Hölle heraus führen. Er bellte kurz, machte kehrt und rannte die Treppe nach oben. Wieder ein kurzes Bellen, als wollte er mir sagen, dass ich keine Angst zu haben brauchte.
Erneut folgte ich ihm.
D ie Stufenplatten gaben gute zwei Zentimeter nach. Ein Schmatzen unter meinen Füßen, gefolgt von einem Platschen hinter mir, begleitete meine Schritte, als würde ich mit jedem Schritt nassen Schlamm herausquetschen.
Die Treppe schraubte sich spiralförmig nach oben. Ein rotes Leuchten an den Wänden nahm mit jedem Schritt an Intensität zu, bis es mich schließlich zu blenden begann. Ich hielt die Hand schützend vor meine Augen und betrat einen Raum durch ein bogenförmiges Tor.
Geschliffener Fels zog sich etwa zehn Meter den Boden entlang. Er glitzerte in hellem Rot wie Morgenfrost bei Sonnenaufgang. Die Wände bestanden aus Felssteinen, die in diesem Licht wie nässende Beulen wirkten. Pulsierend, als würden sie jeden Moment aufplatzen und den Raum mit eitrigem Blut fluten.
Tommy stand in der Mitte des Raumes . Er blickte mich wiederum an, a ls wollte er mir sagen, dass Any Recht gehabt hatte. Meine Angst war unbegründet. In diesem Raum war nichts. Nur Steine.
Und keine Wahrheit.
Dennoch spürte ich die Gefahr. Sie ging vom Steinboden aus. War es dieses Glitzern? Dieses wunderschöne Glitzern? Dieser Schliff, der den Platten den Anschein gab, versteinertes Eis zu sein? Die Fugen begannen zu leuchten. Glühendes Orange stieß in hellen Strahlen in die Höhe und malte Flammen auf die Raumdecke.
Geh weg, Tommy! Verschwinde von dort!
Aber Tommy stand nur da und blickte mich an. Sieh‘ sie dir an, deine Wahrheit , schien er sagen zu wollen. Schau genau hin.
Es geschah im Bruchteil einer Sekunde: Das Zischen. Das feurige Glänzen des kreisrunden Sägeblattes, das unter Tommy auftauchte. Der Schnitt durch seinen Körper. Das Platschen, als Tommy auseinander klappte und die Körperhälften auf den Boden fielen. Die Innereien, die sich über den Boden ergossen. Und Tommys treuherziger Blick. Schau genau hin.
Ich fühlte mich, als wäre ich ein Teil der Felsen geworden. Ich konnte nur auf das blutige Fleisch in der Raummitte starren.
Dass Tommy nach wie vor hechelte und mit dem Schwanz wedelte, gab dem Bild etwas Surreales. Als hätte er nicht bemerkt, dass dieses Sägeblatt ihn entzweit hatte. Sein Herz schlug unentwegt und pumpte Blut aus den zerschnittenen Arterien. Es verteilte sich auf dem Boden wie ein roter Schatten, der sich über das Glitzern der Steine legte.
Einen Lidschlag später hockte der Wolf neben Tommy. Seine glühenden Augen starrten mich an. Seine Lefzen zog er seitlich hoch, was seiner Fratze den Anschein eines schadenfrohen Grinsens gab. Er senkte den Kopf und schleckte das Blut vom Boden. Zuerst genüsslich, dann immer gieriger. Mit durchdringendem Knacken stieß er die Reißzähne in Tommys Vorderleib, riss das Fleisch von den Knochen und verschlang es. Zw ischendurch blickte er zu mir, a ls wollte er sicher gehen, dass ich ihn beobachtet e .
Immer noch war ich unfähig, mich zu bewegen. Ich konnte meinen Kopf nicht fortdrehen, konnte noch nicht einmal meine Augen schließen. Jeden einzelnen Bissen musste ich mit ansehen, die blutverschmierte Schnauze, die sich tief in den Brustkorb vorarbeitete, um das schlagende Herz herauszuquetschen.
Du brauchst keine Angst zu haben, Jacky. Es ist nur ein Traum.
Ich konnte Any nicht antworten. Es schien, als wären sogar meine Gedanken versteinert. Ich konnte nur hilflos zusehen.
Dann änderte sich das Licht. Aus blutigem Rot wurde helles Türkis. Den Ursprung nahm es im rechten hinteren Eck und flutete den Raum. Im Licht manifestierte sich ein Schatten. Zuerst vage, dann konkreter. Wie ein dunkler Schlauch schob er sich durch den Raum. Die Struktur hornartiger Schuppen zeichnete sich ab – türkis, wie das Licht, das sie
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