Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
den Weg.
Die Straße war leergefegt. Keine Autos, keine Passanten, nur diese gut fünfzehn Personen, Männer und Frauen, standen vor mir und starrten mich mit roten Augen aus blutleeren Gesichtern an. Langsam kamen sie auf mich zu. Mit abgehackten Bewegungen, als würden sie von einem Motor angetrieben, der in Sekundenabständen Aussetzer hatte. Ihre Lippen bewegten sich. »Warum hast du mir das angetan, Eddie?« Wie der heisere Sprechgesang eines Mönchschors schwebten die Worte durch die Nacht.
D ann hörte ich die Spieluhr. Die Melodie tönte von allen Seiten, als wäre die gesamte Stadt voller Lautspr echer .
Ich ging langsam rückwärts.
Die Menschen streckten ihre Arme nach mir aus. Blut tropfte von den Handgelenken, ihre Füße hinterließen nassrote Abdrücke auf dem Asphalt, begleitet von einem Geräusch, als würden sie durch matschigen Morast waten. »Warum hast du mir das angetan, Eddie?«
»Was wollt ihr?« Ich wusste nicht, ob ich die Worte nun geflüstert oder herausgebrüllt hatte. Oder hatte ich sie nur gedacht?
Ich wusste, dass diese Szene nicht real sein konnte. Ebenso wenig wie zuvor die Frau mit dem Handy und der Schwarzafrikaner mit dem Haken im Genick. Die Bilder wurden mir von Any geschickt. Sie wollte mir etwas mitteilen. Doch alles, was ich empfing, war Angst und Grauen.
Ich wollte fortlaufen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Mein gesamter Körper schien von diesen Wesen kontrolliert zu werden. Mein Geist, meine Gedanken, mein Gehör. Alles.
»Warum hast du mir das angetan, Eddie?«
»Verschwindet!« Die Zombies waren nur noch einen Schritt von mir entfernt. Die bluttriefenden Arme würden jeden Moment meinen Oberkörper berühren.
Von Ekel befallen schloss ich die Augen und brüllte so laut meine Stimmbänder dazu fähig waren. »Nein!«
Die Stimmen verstummten. Die Schritte ebenso. Nur die Melodie hallte noch blechern durch die Straße.
Ich hoffte, diese ekelhaften Gestalten würden verschwunden sein, wenn ich die Augen wieder öffnete.
Ja. Die Straße war leer.
Nur ein kleines, blondgelocktes Mädchen saß in ihrem Rollstuhl. Die Finger in die Armlehnen gekrallt. Mit traurigem Blick starrte sie in meine Richtung. Tränen glitzerten an den Wangen. Die Unterlippe hatte sie vorgestülpt.
»Warum hast du mir das angetan, Eddie?«
Langsam ging ich auf sie zu und streckte meine Hand nach ihr aus. Sie blickte direkt in meine Augen. Ihre Pupillen verdeckten beinahe das Blau. Sie versuchte die Hand zu heben, schaffte es aber nicht. Erst jetzt erkannte ich, dass die Unterarme mit einem Draht an der Armlehne festgezurrt waren.
»Was machst du da, Eddie?«, fragte sie und schüttelte kaum merkbar den Kopf.
»Pscht«, sagte ich, in der Hoffnung sie beruhigen zu können. Ich merkte, wie die Kleine von Panik befallen wurde. Ihr Oberkörper begann zu zittern. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen durch mich hindurch . Was immer sie sah – es bereitete ihr große Angst. »Ich helfe dir, Patricia. Hab‘ keine Angst. Ich hol‘ dich da raus.«
Ich hatte den Rollstuhl erreicht und ging in die Hocke. Sie blickte an mir vorbei, als stünde jemand hinter mir. »Hörst du? Ich werde dir helfen. Ich habe dein Tagebuch gelesen und werde dich vor Eddie beschützen.« Auch wenn ich davon ausging, dass diese Vision die Zukunft zeigte, hoffte ich doch, dass sie mich verstand. Dass irgendeine Art von Gefühl durch dieses Bild über Any zu ihr gelangen würde und sie spürte, dass hier jemand unterwegs war, um ihr zu helfen.
»Was ist das?«, fragte sie. Immer noch schaute sie an mir vorbei. »Nicht, Eddie!« Sie zuckte zusammen. Irgendetwas hatte sie erschreckt. »Das ist kalt. Und nass.«
»Was ist los, Patricia?«
Dann begann sie zu brüllen. Flammen spiegelten sich in ihren Augen . Ihr Körper bebte. Ich zuckte zurück, erkannte, dass ich das Bild meiner Visionen vor Augen hatte. Jetzt wusste ich, was diesen schmerzerfüllten Ausdruck in ihrem Gesicht erzeugte.
Flammen schlugen von ihren Beinen in die Höhe, spiegelten sich in ihren Augen. Kreischendes Geschrei erfüllte die Straße, vermengte sich mit der Melodie der Spieluhr.
Ich wollte die Flammen ersticken, zog meine Jac ke aus und schlug sie gegen die Beine des Mädchens . Aber der Jeansstoff fuhr durch Patricia und den Rollstuhl hindurch wie durch einen farbigen Nebel . Staub wirbelte auf dem Gehweg auf.
Eine Stichflamme erfasste Patricia. Geblendet schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, waren das Mädchen und
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