Das Tal der Angst
denen Mord ein wohlvertrautes Geschäft war und die schon oft einen Familienvater, einen Mann, gegen den sie gar keinen persönlichen Groll hegten, ohne eine Spur von Gewissensbissen oder Erbarmen gegenüber seinem weinenden Weib und den hilflosen Kindern erschlagen hatten, und trotzdem konnten sie von zarter oder trauriger Musik zu Tränen gerührt werden. McMurdo besaß eine schöne Tenorstimme, und wenn es ihm nicht zuvor schon gelungen wäre, sich das Wohlwollen der Loge zu erwerben, hätte man es ihm, nachdem er alle mit
I’m Sitting on the Stile, Mary
und
On the Banks of Allan Water
entzückt hatte, nicht mehr länger versagen können. Schon an seinem ersten Abend hatte sich der neue Lehrling zu einem der beliebtesten Brüder gemausert und war bereits zur Beförderung und für hohe Aufgaben vorgemerkt. Freilich bedurfte es, neben der guten Kameradschaft, noch anderer Qualitäten, die einen tüchtigen Freimaurer ausmachten, und hiervon erhielt er, ehe der Abend vorüber war, noch eine Probe. Die Whiskyflasche hatte schon viele Male die Runde gemacht, und die Männer waren erhitzt und zu allen Schandtaten bereit, als sich ihr Logenmeister noch einmal erhob, um das Wort an sie zu richten.
»Jungs«, sagte er, »in dieser Stadt gibt es einen Mann, der eine Tracht Prügel braucht, und es liegt an euch, dafür zu sorgen, daß er sie auch erhält. Ich spreche von James Stanger vom
Herald.
Ihr habt doch mitbekommen, wie er wieder sein Maul gegen uns aufgerissen hat?«
Zustimmendes Gemurmel setzte ein, vermengt mit manchem gebrummten Fluch. McGinty zog ein Stück Papier aus der Westentasche.
»›Recht und Ordnung!‹ So lautet seine Überschrift. ›Schreckensherrschaft im Kohle-und Eisenrevier. Zwölf Jahre sind inzwischen vergangen seit den ersten Meuchelmorden, die die Existenz einer kriminellen Organisation mitten unter uns bewiesen haben. Seit jenem Tag haben die Greueltaten nie wieder ein Ende gefunden, und heute haben sie ein Ausmaß erreicht, das uns zum Schandfleck der zivilisierten Welt macht. Nimmt unser großes Land den Fremden, der die Despotien Europas flieht, um solcher Ergebnisse willen in seinen Schoß auf? Damit die Fremden ihrerseits zu Tyrannen werden just über jene Männer, die ihnen Zuflucht gewährt haben, und damit just im Schütze der geweihten Falten des Sternenbanners der Freiheit ein Regime des Schreckens und der Gesetzlosigkeit errichtet werde, ein Regime, das uns mit Grauen erfüllte, läsen wir von seiner Existenz unter der kraftlosesten Monarchie des Ostens? Die Männer sind bekannt. Die Organisation ist allgemein und öffentlich bekannt. Wie lange sollen wir das noch ertragen? Kann unser Leben jemals …‹ Aber, jetzt hab ich wirklich genug von dem Geschmiere vorgelesen!« rief der Stuhlmeister; er warf das Blatt auf den Tisch. »So spricht der über uns. Meine Frage an euch lautet jetzt: Wie sollen wir ihm aufwarten?«
»Umlegen!« rief ein Dutzend wütender Stimmen.
»Ich protestiere«, sagte Bruder Morris, der Mann mit der hohen Stirn und dem rasierten Gesicht. »Ich sage euch, Brüder, daß wir in diesem Tal zu hart vorgehen und daß es zu einem Punkt kommen wird, wo sich alle in einem Akt der Selbstverteidigung zusammentun, um uns auszulöschen. James Stanger ist ein alter Mann. Er genießt Ansehen in der Gemeinde und im Revier. Seine Zeitung steht für alles, was im Tal solide ist. Wenn dieser Mann erschlagen wird, dann gibt es quer durch den Staat einen Aufruhr, der nur mit unserer Vernichtung enden kann.«
»Und wie würde man unsere Vernichtung bewerkstelligen, Mister Kleinmut?« rief McGinty. »Etwa mit der Polizei? Die wird doch zur Hälfte von uns bezahlt, und die andere Hälfte hat Angst vor uns. Oder vielleicht durch die Gerichtshöfe und den Richter? Haben wir das denn nicht früher schon durchprobiert, und was ist dabei je herausgekommen?«
»Es gibt einen Richter Lynch, der sich des Falles annehmen könnte«, sagte Bruder Morris.
Allgemeines Wutgeheul war die Antwort auf diesen Hinweis.
»Ich brauche nur den Finger zu heben«, rief McGinty, »und könnte damit zweihundert Mann in dieser Stadt einrücken lassen, die sie von oben bis unten aufräumen würden.« Dann erhob er plötzlich seine Stimme und zog die gewaltigen schwarzen Augenbrauen zu einem schrecklichen Stirnrunzeln zusammen: »Paß auf, Bruder Morris, ich habe dich im Auge, und das schon seit geraumer Zeit. Du selbst hast keinen Mut und versuchst nun, anderen den Mut zu nehmen. Es wird ein
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