Das Tal der Hundertjährigen
mutet der gezackte Gipfel an wie ein riesiger liegender Kopf – von ihm, so heißt es, gingen
magische Kräfte aus, und auch der Quell des langen Lebens der Leute aus Vilcabamba sei hier zu suchen. Ein Glaube, der sich
seit der Zeit der Inka erhalten hat. Die Einheimischen sagen, die Inka hätten sich in Vilcabamba niedergelassen, weil sie
so empfindsam waren und die Glückswellen spürten, die der Mandango aussandte. Empfindsam? Wieso bin ich der Einzige, der die
Menschenopfer erwähnt?
Ganz hoch im Kurs steht auch die Theorie, dass der Mandango die Luft mit »negativen Ionen« auflade – eine Vorstellung, bei
der sich alter Glaube und pseudowissenschaftliches Gedankengut vermischen.
Am Dienstagmorgen empfängt mich Wilson Correa während seiner Sprechstunde zwischen zwei Patienten. Wir befinden uns in einem
der externen Behandlungsräume des Krankenhauses von Vilcabamba, dem Kokichi Otani – eine ecuadorianische Einrichtung mit japanischem
Namen, so ist es tatsächlich.
Doktor Correa fordert mich freundlich auf, Platz |112| zu nehmen. Er sieht so aus, wie man sich einen Arzt vorstellt: Tadelloser weißer Kittel, ernste Miene, ruhiges Gemüt. Jemand,
der einem das Gefühl vermittelt, man sei bei ihm in guten Händen. In dem Sprechzimmer kann ich auf den ersten Blick außer
einem Blutdruckmessgerät und dem Stethoskop, das Doktor Correa aus der Tasche des Kittels ragt, keine weiteren Instrumente
erkennen. Keine Hightech-Geräte der jüngsten Generation für die schnelle Diagnose. Eine Praxis ohne Kabel und Bildschirme,
dafür mit der Aussicht auf eine schmale, staubige Straße, die »Avenida de la Eterna Juventud«.
Doktor Correa deutet auf ein Foto. »Albertano Rojas. Einhundertsiebenundzwanzig, ein ehemaliger Patient von mir. Er kam nicht
gern in die Sprechstunde, aber die Familie bestand darauf und brachte ihn her. Entweder war er in Begleitung seiner Frau,
eines seiner Kinder oder eines Enkels.« Wilson bekommt einen schwärmerischen Ton, wie er so über die Hundertjährigen spricht.
»Wieso hat er Sie aufgesucht?«
»Am Ende war er ein wenig senil, er vergaß alles und erkannte seine Familie nicht mehr.«
Was ja manchmal nicht unbedingt von Nachteil sein muss, denke ich. Außerdem durfte ein Einhundertsiebenundzwanzigjähriger
bei der großen |113| Anzahl von Familienangehörigen doch schon einmal durcheinanderkommen.
Doktor Correa ist überzeugt, dass alle, die sich mit Herzkrankheiten nach Vilcabamba begeben, geheilt werden können. Vor allem
die, die unter Bluthochdruck leiden. Er selbst habe viele von ihnen behandelt, und fast ohne sein Dazutun seien sie rasch
genesen und hätten die Medikamente absetzen können. Er berichtet weiter, auch Diabetes und Stoffwechselerkrankungen träten
nur selten auf.
»Osteoporose kennt man hier nicht, ebenso wenig wie Patienten mit Krebs.«
»Aber das sind doch ganz unterschiedliche Krankheiten, das kann man doch nicht alles in einen Topf werfen.«
»Ich referiere lediglich, was ich sehe.«
Das überzeugt mich nicht. Es soll eine einzige Substanz geben, die gegen alle Krankheiten wirkt, in allen Organen, trotz unterschiedlicher
Gewebestrukturen und Funktionen? Das klingt nach Zauberei und erinnert mich an die Scharlatane, die Wundermittel zur Behandlung
von Augen-, Herz-, Gelenk- und Zahnproblemen anbieten. Sollte danach noch ein Rest im Fläschchen übrig sein, ließe es sich
sogar gegen Haarausfall einsetzen …
Fakt ist, dass keiner der Hundertjährigen eine |114| Glatze hat. Man würde in ihrem Zusammenhang auch nicht unbedingt von einer wallenden Mähne sprechen, aber immerhin haben sie
noch verhältnismäßig fülliges und kaum ergrautes Haar. Dazu gesunde Zähne und gute Augen. Hundertjährige Frauen arbeiten noch
mit ihren Händen, ohne über Beschwerden zu klagen. Und tagtäglich kann ich beobachten, wie gut die alten Leute auf den Beinen
sind. Unwahrscheinlich, dass die viertausendzweihundert Bewohner von Vilcabamba sich abgesprochen haben, um eine fabelhafte
Komödie aufzuführen.
Etwas hält den Degenerationsprozess in ihren Körperzellen auf, den wir seit jeher als unausweichlich ansehen. Vielleicht ist
eine Heilung gegenwärtig so kompliziert und undenkbar wie es vor Jahrhunderten bei der Tuberkulose der Fall war.
»In Vilcabamba ernähren die Leute sich gesund, ohne Schadstoffe. Sie frühstücken ordentlich. Die Luft ist sauber …«
Hilfe! Jetzt fängt sogar der Arzt davon an, ich kann es
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