Das Tal der Hundertjährigen
Vilcabamba liegt das Wohlergehen der Bevölkerung in den Händen von drei Instanzen: dem Priester, den Ärzten und den Schamanen.
Jede dieser Instanzen hat ihren klar definierten Kompetenzbereich, und zusammen sind sie das wohl erfolgreichste interdisziplinäre
Team der Erde. Die Fakten sprechen für sich, nirgendwo sonst ist die Bevölkerung so alt und gleichzeitig so gesund. Das ist
der Traum aller Statistiken, denn ihre Daten sind belegt.
Juan Hidalgo, der Priester von Vilcabamba, empfängt mich im Pfarrbüro, einem nüchtern eingerichteten Raum mit einem Schreibtisch
und zwei Sesseln, zwischen denen ein kleiner Beistelltisch steht. Er winkt mich herein und bittet um einen kurzen Moment Geduld,
er müsse noch einen Anruf |107| erledigen. Vor ihm steht auf einer Häkeldecke ein altertümliches schwarzes Telefon. Er nimmt den Hörer ab und kündigt einem
Gemeindemitglied seinen Besuch an.
»Ist Vilcabamba ein gläubiges Dorf?«
»Sagen wir mal so: Es gibt sicher gottesfürchtigere Gemeinden, aber immerhin besucht ein fester Kern regelmäßig den Gottesdienst.«
»Was ist mit den Ausländern?«
»Die meisten von ihnen sind Atheisten oder haben eine andere Religion, aber sie verhalten sich sehr respektvoll. Wir pflegen
gute Beziehungen.«
Auf jede Frage antwortet der Priester mit einem hochheiligen Ernst – wie man es eben von einem Kirchenvertreter erwartet.
Dennoch irritiert er mich: Er sieht einem bekannten Popsänger zum Verwechseln ähnlich. Und damit nicht genug, er kleidet sich
auch noch wie dieser Popstar: Über dem T-Shirt trägt er eine kurze schwarze Lederjacke. Während ich ihm zuhöre, habe ich die
ganze Zeit das Bild des tanzenden Sängers und kreischender Teenies vor Augen. Der Pfarrer scheint sich dieser Ähnlichkeit
bewusst zu sein. Aber vielleicht erscheint mir, noch unter dem Einfluss des Lotteriespektakels, auch nur alles wie ein großes
Musical.
Den Priester von Vilcabamba stört es, wenn im |108| Ort wie aus dem Nichts plötzlich Trauben von Journalisten oder Forschern auftauchen und rücksichtslos über die alten Menschen
herfallen.
»Ich verspreche, achtsam vorzugehen«, sage ich.
Juan Hidalgo lacht amüsiert. Kein Zweifel: Er ist der Zwillingsbruder dieses Popstars.
»Was, denken Sie, zieht die Menschen so sehr an?«, frage ich.
»Erstens will keiner sterben. Und zweitens findet das Obskure, Rätselhafte immer schnell Anhänger.«
Ich spare mir die Nachfrage, welchen Einfluss das auf seine tägliche Arbeit hat, und erkundige mich stattdessen, wie es die
Neunzigjährigen schaffen, ihre einhundertzwanzigjährigen Eltern zu pflegen.
Juan Hidalgo lehnt sich im Sessel zurück und schaut mich – ich würde sagen: durchdringend – an. Ich hoffe, er unterstellt
mir nicht, ich sei aus persönlichen Beweggründen gekommen und suchte in Vilcabamba nach einer Lösung.
»Sie haben alle viele Kinder, und sie teilen sich die Arbeit auf. Jeder trägt etwas bei: Pflege, ein wenig Geld, Aufmerksamkeit.
Dadurch ist niemand übermäßig belastet. Auch wenn es manchmal trotz aller Bemühungen nicht reicht, ist es doch mit sieben
oder acht Kindern leichter zu bewerkstelligen als mit einem oder zweien. Viele Kinder oder Geschwister |109| zu haben ist die natürliche Form, im Alter zu überleben.«
»Gibt es denn eine unnatürliche?«
»Ja, mit viel Geld.«
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Wilson Correa – seit fünfundzwanzig Jahren Arzt in Vilcabamba – reist immer aus Loja an, um seine Sprechstunde abzuhalten.
Dreimal in der Woche empfängt er dieselben Patienten, ihre Kinder und inzwischen auch ihre Enkel.
Im Krankenhaus gäbe es auch andere Ärzte, die ich interviewen könnte, aber Víctor behauptet, keiner verkörpere wie Wilson
»das gesundheitliche Gedächtnis« des Dorfes – er ist ein Freund großer Worte. Heute hat Doktor Correa keine Sprechstunde,
so bleibt mir die Zeit, das Gespräch vorzubereiten und mir Notizen zu machen. Ich bin wahnsinnig gespannt auf das Treffen
mit dem Arzt, dessen Patienten die beste Überlebensrate haben. Sein beruflicher Erfolg ist nicht von der Hand zu weisen. Endlich
werde ich mich mit jemandem jenseits von Klischees und Mythen über wissenschaftliche Fakten unterhalten können und dem Geheimnis,
das sich um Vilcabamba rankt, hoffentlich näher kommen.
|111| Neulich habe ich erfahren, dass einem Berg im heiligen Tal besondere Bedeutung zugeschrieben wird: »El Mandango«, der Berg
des ruhenden Gottes. Von weitem
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