Das Tal der Hundertjährigen
Wäre es nicht denkbar, dass es in Vilcabamba Faktoren
gibt, die auf vergleichbare Weise den Alterungsprozess beeinflussen?
Es hat immer etwas Aufrührerisches, in eine neue Richtung zu denken. Doch wissenschaftlicher Fortschritt ist nur um den Preis
der Bequemlichkeit zu haben; er wirbelt unsere Weltsicht durcheinander und führt uns zu der Erkenntnis, dass das, was wir
bis dato für unumstößlich gehalten haben, nur ein Trugbild mit hypnotischer Wirkung war.
Ich frage Lenin, ob er die Messe besucht. Er schüttelt den Kopf. Es widerstrebe ihm, für seine Sünden gegeißelt zu werden.
Und dann die ständige Drohung mit der Hölle … Er sei schließlich erwachsen!
Víctor hat den Eindruck, dass es in Vilcabamba ohnehin immer weniger Gläubige gibt und nur die |103| älteren Menschen in die Kirche gehen. Die Jungen sähen sich nicht als Sünder, sie glaubten nicht, dass sie eine Strafe verdient
hätten, und Angst vor der Hölle hätten sie auch keine.
Ich denke, es ist nicht gerecht, in der Kirche allein die vorwurfsvoll Anklagende zu sehen. Wenn die Religion so lange überdauert
hat, muss sie den Menschen irgendetwas gegeben haben. Wir sind der Ansicht, dass wir stets nach dem streben, was uns guttut
– aber stimmt das wirklich? Entspräche es unserer natürlichen Neigung, das Glück zu suchen, wären wir alle glücklich. Wie
oft erreichen wir etwas Ersehntes und stellen dann fest, dass es uns nicht das gibt, was wir uns davon versprochen haben?
Wir möchten ungetrübtes Glück genießen, aber andererseits üben Schuld, Strafe und die Vorstellung der Hölle eine gewisse Faszination
auf uns aus. Das Paradies unterscheidet sich im Grunde gar nicht so sehr von der Hölle. Ein Ort, an dem nichts geschieht und
alle nett zueinander sind. Am dritten Tag würde ich mich in das Leben zurückwünschen.
Die Wissenschaft schenkt uns die Illusion, wir seien fortschrittlich. So vertritt die heutige Medizin die These, Sexualität
sei gesund. Es wird so viel darüber berichtet, wie man ein erfülltes Sexualleben erreicht, dass derjenige, der nicht auf bestimmte |104| Weise und in bestimmter Häufigkeit sexuell aktiv ist, sich wie ein Ignorant vorkommen muss. In gewisser Hinsicht hat uns die
Medizin mit dem Hinweis auf den Gesundheitsaspekt das Recht auf Lust wieder geschenkt; eine Lust, die das begleitende Marketing
schnell zunichtezumachen droht.
Und überhaupt: Wenn Sex so gesund ist, wie geht das mit der von der Kirche postulierten Keuschheit zusammen? Dann steht Gott
gegen Medizin, schwarze Soutane gegen weißen Kittel, das Gute gegen das Wohlbefinden. Klar, wer mehr Zulauf hat. Und als Ventil
für seine Schuld- und Angstgefühle findet der Mensch auch in der Medizin eine Kasteiung durch Kontrollwahn.
Hoffentlich, denke ich, vergeht mir bei diesem ganzen Gerede über gesunde Ernährung nicht irgendwann der Spaß am Essen. Glücklicherweise
aber, das muss ich zugeben, ist die Küche im Madre Tierra exzellent. Leicht und köstlich.
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Ich glaube nicht an Wunderheilungen. Ich werde misstrauisch, wenn eine Diagnose nicht durch Fakten gestützt ist. Nichts gegen
alternative Heilmethoden – ich finde sie phantastisch –, aber bitte nicht bei schwerst kranken Patienten. Wie alle kenne ich
Geschichten von Kranken im Endstadium, die wie von Zauberhand geheilt wurden, und von Patienten, die eine Wallfahrt von Praxis
zu Praxis hinter sich hatten, bevor sie Alternativen ausprobierten und damit gute Ergebnisse erzielten. Aber selbst der größte
Skeptiker greift auf die Schulmedizin zurück, wenn er schlimme Schmerzen hat oder um sein Leben bangt. Ist der Tod beim Strafstoß
am Ball, überlässt man doch gern dem Arzt das Tor.
Die alternativen Heilmethoden sind eine Form der Rebellion gegen den undurchschaubaren, beklemmenden Apparat der Schulmedizin.
Ich habe mehrere Jahre in Hospitälern auf dem Land gearbeitet, wo die Leute auf alternative Methoden |106| schworen. Die Berichte von Wunderheilungen waren Legion. Immer empfahl man zunächst den Heiler, bevor man überhaupt an einen
Arzt dachte. Nie war von den unzähligen Fällen die Rede, die nicht gut ausgingen und auf die nur wenige Erfolge kamen. Und
Patienten mit schweren Krankheiten, die erst im fortgeschrittenen Stadium ins Krankenhaus überwiesen werden, haben deutlich
geringere Heilungschancen als andere. Damit will ich nicht behaupten, die Schulmedizin habe auf alles eine Antwort. Mitnichten.
In
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