Das Tal der Hundertjährigen
Kleidern.
Nur wenige tragen Schwarz. Es heißt, im Dorf gebe es mehr Witwer als Witwen. Bleibt eine Frau zurück, trägt |99| sie Trauer; die alten hinterbliebenen Männer hingegen suchen sich bald wieder ein junges Mädchen.
Eine Gruppe Jugendlicher kommt über die Straße und versammelt sich aufgeregt um eine schwarze Kawasaki. Unter den neidischen
Blicken der anderen schwingt sich einer von ihnen auf den Sitz und lässt den Motor aufheulen. In der Kirchentür steht, ganz
in Weiß, eine Nonne und beobachtet sie mit nachsichtigem Blick. Sie ist froh, dass die jungen Leute sich überhaupt in die
Gemeinde einbringen. Man muss die Schöpfung genießen und dankbar sein – vor allem das. Eine offenbar gerade eingetroffene
japanische Touristin versorgt ihr verletztes Bein. Vier Teenies amüsieren sich über einen alten Hippie mit roter Hose und
gelber Mütze und lassen ihre jüngeren Schwestern nicht an ihrem Vergnügen teilhaben. Auf dem Rücken eines Esels reitet Segundo
Guerra heran, er ist achtundneunzig und bärbeißig, einer der berühmtesten alten Männer im Tal. Als er mich und meine Kamera
mit dem Teleobjektiv erspäht, wirft er die Zigarette weg und zieht den Hut tief ins Gesicht.
Es sind an diesem Morgen so gut wie keine Autos unterwegs. Nur ein LKW mit Anhänger bricht plötzlich hupend in die sonntägliche
Idylle ein und versperrt die Straße. Auf der Plastikplane |100| des Lasters stehen verführerische Schriftzüge: »Nationale Lotterie« und »Goldgrube«. In null Komma nichts ist eine Bühne aufgebaut,
und zwei junge Mädchen auf Stilettoabsätzen verkaufen die Chance auf unzählige Preise, vom Bargeld bis zum praktischen Haushaltsgerät
ist alles dabei. Die Möglichkeit auf Glück lockt die Menschen an. Als die versammelte Menge groß genug ist, übernimmt der
Fahrer das Mikrofon. Die Leute betrachten ihre Lose, prägen sich die Nummern ein – dann wird es mucksmäuschenstill. Doch anstatt
die Namen der glücklichen Gewinner zu verkünden, schließt der Mann die Augen und fängt an zu singen. Die Anlage ist ein wenig
übersteuert. Vor seinem Auftritt hat der Mann sich umgezogen: Er trägt jetzt einen glänzenden Anzug, der farblich auf das
Dekor des Anhängers abgestimmt ist. Und eine riesige Sonnenbrille. Der Lärm, seine Aufmachung und überhaupt, dieser ganze
Lotteriezirkus sprechen gegen ihn – doch er singt unglaublich gut, auch ohne instrumentale Begleitung. Seine raue Stimme geht
unter die Haut. Er bringt ein tieftrauriges Lied dar, über einen Mann, der völlig verzweifelt wegen einer Frau ist.
Víctor erinnert sich plötzlich an einen Tag, an dem sich auf dem Dorfplatz ebenso viele Menschen versammelt hatten wie heute.
Es war der Tag, |101| an dem Yukio Yamori auf dem Platz sprach; fast das ganze Dorf sei da gewesen.
Yamori ist ein bedeutender Mediziner und Experte der WHO, eine Autorität in Fragen gesunder Lebensführung. Unter anderem hat
er sich mit dem Phänomen der überdurchschnittlich alten Menschen in Okinawa beschäftigt und einige Untersuchungen zu diesem
Thema durchgeführt. Wie viele andere kommt auch er zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang zwischen dem hohen Alter und
der Ernährung geben muss. Hundert Gramm Fisch, fünfundzwanzig Gramm Soja und vor allem kein Salz. Das habe er auch den Leuten
in Vilcabamba ans Herz gelegt, die einen enormen Salzkonsum haben. Das Erstaunliche ist übrigens, dass sie trotzdem einen
niedrigen Blutdruck haben.
In Vilcabamba ticken die Uhren eben anders …
Und nicht nur gegen Bluthochdruck und Arteriosklerose scheinen die Menschen aus Vilcabamba gefeit zu sein. Die Mehrzahl der
Hundertjährigen im Dorf kann sich außerdem einer vollständigen Garnitur gesunder Zähne rühmen – und das hat nun wirklich nichts
mit den Arterien zu tun. Bedenkt man weiterhin, dass die Zentenare kaum ergrauen, ohne Brille lesen können und keinerlei Knochenprobleme
haben, ist das sicher nicht allein auf gesunde Ernährung zurückzuführen.
|102| Ich möchte noch einmal die Vorstellung vom Alterungsprozess als eine Art Krankheit bemühen, dann werden einige Zusammenhänge
vielleicht deutlicher. Nehmen wir an, irgendwo in einem abgeschiedenen Winkel der Welt litte die Bevölkerung unter Vitamin-B3-Mangel;
die Menschen würden die daraus resultierende Krankheit Pellagra als unausweichliches Schicksal betrachten, obwohl man sie
leicht heilen könnte, indem man ihnen die fehlenden Stoffe zuführte.
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