Das Tal der Hundertjährigen
nicht mehr hören. Ich atme tief durch.
»Entschuldigen Sie, Doktor Correa. Worauf genau führen Sie als Arzt das lange Leben der Dorfbewohner zurück?«
»Nun, wie ich schon sagte, die Leute hier achten sehr auf eine gesunde Ernährung … Außerdem |115| wächst in dieser Gegend der Wilco, ein Baum, der die Atmosphäre mit Sauerstoff versorgt. Und nicht zu vergessen: Die familiäre
Bindung ist sehr eng. Der Patriarch hält seine Sippe zusammen, und auch wenn er für sich selbst sorgen kann, ist immer jemand
bei ihm. Er wird als das Familienoberhaupt angesehen und entsprechend umsorgt. Das ist von fundamentaler Bedeutung.«
Es wäre ja zu schön, wenn Liebe und Familie wie ein Universalbalsam alles lindern und heilen könnten … Aber auch in Vilcabamba
habe ich alte Menschen getroffen, die auf sich allein gestellt sind. Da sie produktiv sind und für sich sorgen können, kommen
sie einigermaßen zurecht. Und es lebt hier auch längst nicht jeder im Frieden mit sich und dem Universum. Manuel Picoita zum
Beispiel neigt zu Wutausbrüchen, wenn die Seinen sich nicht so um den Hof kümmern, wie er es gern sähe. Und Segundo Guerra
ist unausstehlich, ein Griesgram vor dem Herrn.
Ich teile Doktor Correa meine Zweifel mit: »Verzeihen Sie, aber ich habe einen Hundertjährigen gesehen, der auf der Straße
lebt.«
Er winkt ab. »Ja, aber das sind Einzelfälle, und das Klima erleichtert die Sache … Die Familie spielt hier eine Rolle, die
man gar nicht überschätzen kann. Wenn einer der Hundertjährigen stirbt, |116| halten die Angehörigen eine dreitägige Totenwache. Sie verehren ihn, er gilt ihnen als Vorbild, ja sie verehren ihn. Das ist
es: Die Ehre lässt sie so lange leben. Es gibt keine Untreue, keine Heimtücke, keinen Betrug.«
»Ein Paradies sozusagen.«
»So ist es. Hier hört man nur die Geräusche der Natur. Wenn die Hundertjährigen spazieren gehen, müssen sie kein Motorengeknatter
ertragen, keine Menschen, die gestresst dem Geld hinterherjagen.«
»Warum kommen sie dann in Ihre Praxis?«
»Parasiten.« Doktor Correa seufzt. »Hauptsächlich in den Eingeweiden. Die sanitären Anlagen sind eine Katastrophe, und Hygienevorschriften
gibt es keine. Der Abwasserkanal ist ein Alptraum.«
Das Paradies, der mythische Ort friedvoller Unwissenheit, ist also ein schmutziger Ort.
»Und dann verordnen Sie ihnen Medikamente, und sie sind geheilt?«
»Geheilt sind sie, aber mit Medikamenten muss man vorsichtig sein. Schon mehr als einmal habe ich ein Mittel gegen Parasiten
verabreicht und dem Patienten ging es nachher – ohne Parasiten – schlechter als zuvor. Es ist, als ob sie in symbiotischer
Verbindung mit der Natur lebten.«
»Bis zu welchem Alter haben sie Kinder?«
|117| Wilson Correa breitet die Arme aus und schaut gen Himmel.
»Eulegio Carpio hat mit über neunzig Julia León geheiratet, ein junges Mädchen. Sie bekamen drei Kinder. Ich habe mit ihm
und vielen anderen gesprochen: Auch im hohen Alter haben sie immer noch regelmäßig guten Sex.«
Wilson verrät mir ein Geheimnis, sozusagen von Kollege zu Kollege: Erektionsprobleme kennt man in Vilcabamba nicht.
»Es kamen Frauen in meine Sprechstunde, die mit Hundertjährigen verheiratet sind, und baten mich, ihnen etwas zu verschreiben
– nicht für sie, sondern für die Männer. Sie haben ihnen keine Ruhe gelassen.«
»Und wie erklären Sie sich das?«
»Sie trinken Tee aus Blättern des Guayusa-Baumes, er wirkt verdauungsfördernd und senkt den Blutzuckerspiegel. Früher glaubte
man, Frauen würden nach dem Genuss dieses Getränks schneller schwanger … Nehmen Sie Segundo Guerra. Ein über neunzigjähriger
Mann, den man immer im Dorf antrifft. Er ist ein ungehobelter Kerl, barsch, mürrisch, wenn man ihn anspricht. Doch sobald
es um Frauen geht, blüht er auf. Es scheint das Einzige zu sein, was ihn interessiert. Auf Dorffesten gibt er den charmanten
Verführer, und er hat ein |118| Faible für ganz junge Mädchen. Vor ein paar Jahren kam eine Anthropologin hierher, ich weiß nicht mehr, ob sie Polin oder
Deutsche war. Sie schrieb an einem Buch mit dem Titel
Sex mit Hundertjährigen
. Sie bezahlte die alten Männer dafür, dass sie mit ihr ins Bett gingen.«
»Ist sie lange geblieben?«
»Nein. Ihr Geld ging schneller zur Neige als erwartet.«
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Als ich nachfrage, ob er Meneses sei, schaut er mich argwöhnisch an. Er tritt einen Schritt zurück und mustert mich von Kopf
bis
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