Das Tal der Wiesel
Rädern kommt man nicht überall hin.«
Der junge Techniker betrachtete das Unterholz. Am Rande des Waldes, wo sich Büsche und Bäume trafen, war es am dichtesten. Brombeersträucher wetteiferten mit den Heckenrosen um die spitzesten Dornen, während die unteren Äste der Eichen leicht die Wipfel der Haselsträucher berührten. Weiter im Wald hinein hob sich das Blätterdach, und es wurde einfacher, sich einen Weg zu bahnen. Die Stimmen der Vögel, die am Waldrand aufgefallen waren, blieben zurück, bis in den grünen Tiefen nur noch ein Flüstern zu hören war. Das Mädchen sprach mit kräftiger Stimme. »Man sagt, daß auch Bäume eigenständige Wesen sind.«
»Genauso wie jemand, den ich kürzlich kennengelernt habe.« Der Mann grinste.
»Man sagt, daß Bäume ebenso fühlen können wie wir. Ein Mann soll in diesem Wald einmal einen Holunder gefällt haben, aus dem dann Blut geflossen war.«
»Glaubst du das etwa?«
Sie lachte. »Frag Wilderer. Du wirst Wilderer oder meinen Vater nicht dazu bringen können, Holunderholz zu verbrennen. Aber die Eiche ist ein guter Baum, ein Baum des Friedens.«
»Dann ist ja alles in Ordnung – vorausgesetzt, wir kommen hier wieder heraus!«
»Keine Angst!« Ihr Gelächter hallte durch den Wald. »Wilderer hat mich immer mitgenommen, wenn er im See fischen wollte. Ich kenne die Waldwege.« Schatten bewegten sich über ihr Hemd, sprenkelten ihre kräftigen Schultern, als sie ihren Arm hob und nach vorne deutete. »Dort«, sagte sie. »Siehst du das Bläßhuhn auf dem Wasser? Und die Silberweiden? Die große da, das ist Wilderers Baum.« Einige Zeit lang betrachtete sie ihn wortlos. »Er ist krank. Glaubst du, daß er stirbt?« fragte sie. »Die vielen kahlen Äste …«
»Ich nehme an, daß er – ebenso wie Wilderer – alt wird.«
»Wird er sterben?«
»Das meinst du doch wohl nicht ernst, oder?« Er sah ihr in die Augen. Sie waren so tief wie der See im Herzen des stillen Waldes. Über dem Ufer des Sees schwebten Blätterdächer, ihre dunklen Schatten umsäumten den Himmel, der sich im Wasser spiegelte. Es herrschte eine eigenartige Stimmung. Er konnte sie nicht beschreiben, wie beispielsweise die Ausstrahlung einer Maschine, doch er hatte etwas über Animismus, über heilige Wälder gelesen, und konnte daher die heidnische Kraft eines derartigen Ortes spüren. Er sagte: »Erzähl mir nicht, daß ihr hier an Aberglauben sterbt!«
Das Mädchen lächelte, und er näherte sich ihr. Seiner Hand ausweichend, entwischte sie ihm. »Nur wenn ein Ast abstirbt, wenn die Blätter fleckig sind oder die geflügelten Samen der Esche ausbleiben. Andererseits« – sie wich ihm ein zweites Mal aus –, »wenn du um eine Eiche herumtanzt, wirst du dich glücklich verheiraten.« Sie kicherte. »Kannst du tanzen?« fragte sie und ließ zu, daß er sie fing und flüchtig küßte. Sie befreite sich wieder. »Nun hast du die Saatkrähen erschreckt. Sie mögen keine fremden Menschen.«
»Sie machen dich dafür verantwortlich, daß du mich mitgebracht hast, oder?«
Sie betrachtete ihn nachdenklich. Ein Blatt hatte sich in seinem Haar verfangen, als er sich duckend durch ein Gebüsch gegangen war, und die Dornen der Brombeersträucher hatten den einen Arm zerkratzt. Aber seine Stimme war ebenso warm, wie es sein Kuß gewesen war, sein verschmitztes Lächeln angenehm.
»Komm weiter«, forderte sie ihn auf. »Wir sind gleich auf der Wiese. Von dort aus kannst du das Marschland und die Pumpstation sehen.«
Am hochgewachsenen Dickicht des Waldrandes angekommen, blieb sie stehen und winkte ihn heran. »Schau mal! Wiesel – sie kämpfen.«
»Nicht zu glauben!« murmelte er.
»Eins sieht zu. Es sind drei.«
»Sie haben uns bemerkt«, flüsterte der Mann. »Sie hören auf. Das größere scheint den kürzeren zu ziehen: Es haut ab.«
»Und übrig bleibt ein Paar.« Sie lächelte andeutungsweise. »Aber es geht keinen etwas an, was hier in der Gegend geschieht.«
9. Kapitel
Die ersten Kanadagänse kamen von der Flußmündung her ins Tal, flogen tief über die Bäume hinweg und kreisten dann mit heiseren Schreien über die Marsch. Es waren eindrucksvolle Vögel, sie maßen von ihren schwarzen Köpfen bis zu ihren schwarzen Schwanzfedern ungefähr einen Meter und hielten ihre Beine während des Fluges unter einem blassen Rumpf nach hinten gestreckt, doch es war das wilde Trompeten, das ihrer Rückkehr die ausgelassene Stimmung verlieh. Laut hallte es von den Hügelkämmen wider, eine freudige
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