Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
ihres Hemdes bis in ihre Handfläche ragte. Zur Hölle mit allen Verrätern! In ihr war genug Hass, um zu töten.
16.
Die Sohlen ihrer Samtschuhe glitten mechanisch über den Steinboden des Korridors. Vor den Bogenfenstern verblassten die Sterne, die Nacht verabschiedete sich mit müdem Grau. Würde sie je wieder einen Sonnenaufgang sehen? Die Kerker Londons waren finstere Gelasse, und die Ehre einer Haft im Tower würde man ihr kaum gewähren. Cass suchte den Blick auf die nahe Themse. Der Fluss schwoll vom Eindringen der Flut. Schwäne lösten sich mit nassen Schwingen aus der Strömung, umtanzt von segelnden Möwen.
Könnte ich nur fliegen wie ihr, dachte sie. Sie wunderte sich, dass niemand den hämmernden Schlag ihres Herzens vernahm. Er hallte in ihrem Kopf so laut, als wolle er ihn zersprengen wie Januarfröste einen tönernen Krug.
Das ist das Ende, pochten ihre Gedanken. Von allem. Wenn es nur schneller gehen würde! Sie stolperte über eine Steinkante. Jäh setzte ihr Herzschlag aus. Sie taumelte kurz.
Eine Ohnmacht wird dir nichts nutzen, schalt sie sich. Denke nicht an die Stricke, das Feuer, den Gestank, die Mutter ... Etwas vergessen wollen, heißt, daran denken, mahnte sie sich und zwang sich, den Kopf zu heben. Noch lebst du. Sie umklammerte die dünne Schneide des Briefmessers und fixierte den Rücken des Mannes, der vor ihr ging.
De Selve hatte recht behalten. Ihn hatte man in seinen Gemächern gelassen, bewacht von einem einzigen Leibgardisten Edwards, den er unbekümmert zu einem Becher Wein geladen hatte. Der Marquis hatte nicht wirklich danach ausgesehen, als wolle er sie jemals wiedersehen. Sie war auf sich allein gestellt.
Aber bei Gott, vor ihr ging ein Mann, den sie unmöglich töten konnte. Sir Henry Sidney. Edwards Kammerherr, sein bester, vielleicht einziger Freund seit dessen Kindertagen. Zumindest hielt Edward ihn dafür. Der dreiundzwanzigjährige Sidney war der Hüter seiner intimsten Geheimnisse. Er war es, der den König als Erster am Morgen begrüßte, der ihn wusch und kleidete, der ihn des Nachts verabschiedete, nachdem er sich über die Matratze von Edwards Bett gerollt hatte, um zu prüfen, ob tödliche Springmesser darin verborgen waren. Ein ergebener und verschwiegener Höfling, der sie heimlich geholt hatte, wenn der Tudor-Erbe nach ihr verlangte.
Nie jedoch aus den Gemächern eines Liebhabers. Und Spions. Cass’ Wangen brannten.
Sidney hatte nie gezeigt, wie tief es ihn kränkte, als der Tudor-Sohn seine Zuneigung auf den schillernden Franzosen lenkte. Dabei hatte er alles getan, um Edward nah bleiben zu können. Vor zwei Jahren hatte er gar Dudleys älteste Tochter geehelicht, um als Kammerherr nicht gegen einen der zahlreichen Dudley-Söhne ausgetauscht zu werden.
Der treue Sidney hatte nicht triumphiert, als er sie entdeckt hatte. Er hatte seinen Umhang abgestreift und ihr um die Schultern gelegt. Er hatte sich abgewandt, während sie mit zitternden Fingern versucht hatte, das starre Korsett umzulegen und im Rücken zu verschnüren.
Sir Henry hatte mehr Contenance gezeigt als de Selve, der die aberwitzige Komödie des betrunkenen Hallodris gegeben hatte, und mehr Feingefühl als sein Begleiter, der ihr mit grimmiger Genugtuung zugeraunt hatte: »Hatte ich dich nicht gewarnt?« Und verraten! Verdammter Spanier.
Der Mann mit dem Pechhaar und dem funkelnden Ohrschmuck ging jetzt hinter ihr. Sie meinte seine Verachtung in ihrem Rücken zu spüren – kalt wie die Spitze eines Degens. Als sei Sterben nicht schrecklich genug. Abschätzig wie ein Rosshändler hatte er sie begutachtet, umgedreht und dann geschnürt. So fest und unnachgiebig, dass ihr der Atem vergangen war. Als sei er der Henkersscherge, der sie binden würde, um sie ins Feuer zu stoßen. Auf Hochverrat am König stand der Flammentod.
Wenn sie ihre Schwangerschaft ins Feld führen würde, würde man sie nach altem Gesetz in ein Gefängnis stecken, die Geburt abwarten und sie danach auf den Scheiterhaufen schicken. Vielleicht würde man ihr Pulversäckchen um Füße und Hals binden, damit sie durch die Explosion schneller starb. Eine Gnade, die ihre von Folter gezeichnete Mutter abgelehnt hatte. Stattdessen hatte sie in wirren Worten zu ihrem Gott gebetet, bis der Henker – ein hässlicher stoppelbärtiger Flegel – so viel feuchtes Reisig ins Feuer geworfen hatte, dass ihr der Qualm die Luft zum Atmen nahm.
In der Tat, sie starb ohne Schrei, dafür mit einem Röcheln, das nichts Menschliches
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