Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Was wollt ihr noch?«
Cass drehte sich zornbebend zu ihm um. De Selve hatte recht, verlogenes Glaubensgeschwätz war widerlich. Hielt er sie für dumm? »Was nutzt mir das Ehrenwort eines Spaniers und Verräters? Euer Kaiser will seine Großnichte Maria auf dem Thron sehen. Man munkelt, er schreckt nicht einmal vor Gift zurück, um Edward zu vernichten und England unter sein Zepter zu zwingen!«
»Es braucht kein Gift, um Gottes Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen! Und obwohl in meinen Adern spanisches Blut fließt, schlägt mein Herz für das Wohl Englands«, versetzte der Fremde scharf. »Was man von dir nicht behaupten kann.«
»Genug!«, unterbrach Sidney die beiden. Mit angespanntem Gesicht sah er wieder über seine Schulter. Im Korridor hinter ihnen vernahm man das Klirren von Sporen, das Kratzen von Schleppdegen auf nacktem Stein. Am Ende des langen Korridores zogen rot-gelbe Gardisten ein.
»Das sind Dudleys Wachen. Rasch!«
Der Spanier drängte Cass in den Gang hinter dem Wandteppich. Kälte umhüllte sie wie ein Mantel, die Wände atmeten den Dunst der nahen Themse. Sie vernahm ein von Samt gedämpftes Klimpern schwerer Münzen. Dann war der Spanier direkt hinter ihr. Anscheinend brauchte es also mehr als das Ehrenwort von einem Sekretär des Kaisers, um eine Protestantin zu retten. Oder – Cass erschauderte – um mich zu beseitigen. Er war ein Verräter, das wusste sie längst.
So wie du! Ihr Verstand rebellierte – und ihr Magen. Das Kind. Herr, ich trage ein Kind in mir, lass es leben, es ist ohne Schuld! Sie schrak zusammen, als der Spanier von hinten ihren Kopf nach unten drückte. Der Tunnel senkte sich ab.
Sie hoffte, dass er tatsächlich in die Gärten zu führte. Sie hatte immerhin ein Messer bei sich, ein vages Versprechen von de Selve und – weit wichtiger – die feste Absicht, von nun an nicht mehr auf Barmherzigkeit oder Liebe zu vertrauen, sondern allein auf sich selbst.
Bonne chance.
17.
Nach wenigen Yards kamen sie nur noch gebückt voran. Schließlich musste Cass in die Knie gehen, um sich in Finsternis und Stille voranzuarbeiten. Ihre Hände – eine streckte sie immer wieder aus, um den Weg zu ertasten, die andere schloss sich um das Messer – waren taub vor Kälte. Eiskaltes Wasser nadelte von der Tunnelwölbung in ihren Nacken. Ihre Knie würden wund geschürft sein, wenn sie je das Ende dieser Mauerröhre erreichten, die sich tiefer und tiefer in die Erde zu bohren schien. Sie würde den Schmerz begrüßen. Alles war besser als diese Finsternis, als die Kälte, die sich in ihr ausdehnte, und als diese schreckliche tote Stille. Bei Gott, es wäre schwer, im Frühling zu sterben und in dem Wissen, dass ihre Liebe nur Irrtum gewesen war.
»Schneller!«, drängte der Spanier von hinten.
Ihr Begleiter bewegte sich geräuschlos, gelegentlich kratzte sein Dolch, den er am Gürtel trug, gegen Stein und erinnerte sie daran, dass er sie hier mit Leichtigkeit töten konnte – und wohl auch wollte.
Denk nach!, befahl sie sich, denk über irgendetwas anderes nach als deinen Tod! Sie schmeckte Salz auf den Lippen, die wund waren von de Selves Küssen. Salz. Es musste von der Meeresbrise rühren, die bei Greenwich die Themseluft würzte. Sie trug Leben in sich. Dieser heilsamen Luft wegen, die nicht den Pesthauch und die Ausdünstungen der City mit sich trug, hatte man Edward von Whitehall Palace hierhergebracht.
Noch im April hatte er kraftvoller gewirkt, war mit de Selve geritten, hatte an Jagden teilgenommen ... Sie sah Edwards scheues Lachen ... Und er hatte sein Testament begonnen, in dem er Jane Grey zur Thronerbin bestimmte.
Es war ein verzweifelter und gefährlicher Schritt für die Reformation. Würde er einen Krieg auslösen im Namen Marias? Würde das Volk sich erheben? Würden andere Adelsfamilien alte Anrechte auf Englands Thron anmelden? Viele Machthaber Europas würden diese Selbstzerfleischung Englands im eigenen Interesse schüren. De Selve hatte recht gehabt: Die Anhänger der neuen Lehre hatten Gebirge von Hoffnungen auf die schmächtigen Schultern eines Knaben getürmt. Nur wenn er lebte, bestand Aussicht auf einen friedlichen Glaubenswandel.
Der Gang senkte sich weiter ab. Cass fühlte das Mauerwerk auf ihren Schulterblättern lasten. Angstvoll schnappte sie nach Luft.
»Wie weit noch?«, fragte sie japsend.
Ein tonloses Lachen war die Antwort.
»Ich kann kaum mehr atmen!«
»Du hast es gleich hinter dir.« Der Spanier robbte näher an sie heran, schob
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