Das Tattoo
heruntergerutscht war, dann machte er die Augen zu und legte seinen Arm fester um sie. Draußen war es kalt und stürmisch. Ein neuer Tag brach an.
Pharaoh Carn saß mit einer Tasse Kaffee am Fenster, das auf den hinteren Teil seines Anwesens hinausging, und beobachtete, wie die Sonne aufging.
An einem Finger seiner linken Hand baumelte ein Schlüsselring mit einer Hasenpfote.
Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich, weil er immer wie der aus dem Schlaf hochgeschreckt war. Jedes Mal, wenn er seine Augen geschlossen hatte, sah er dieselbe Szene vor sich. Der schwankende Boden und die Angst auf Francescas Gesicht, wäh rend er kopfüber die Treppe hinuntergestürzt war.
An alles weitere konnte er sich nur noch bruchstückhaft erin nern: Er sah das Gesicht eines Mannes, der sich über ihn beugte;
er erinnerte sich daran, wie er in den Hubschrauber eingeladen worden war und an seine Tage im Krankenhaus. Die endlosen Stunden, in denen er in fremde Gesichter geschaut hatte und schmerzhafte Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. Und das alles mit dem Wissen im Hinterkopf, dass ihn sein Glück zum zweiten Mal in seinem Leben verlassen hatte.
Er umschloss die Hasenpfote fest mit der Hand, obwohl er wusste, dass sie den Verlust von Francesca nicht wettmachen konnte, aber im Moment war sie alles, was er noch von ihr hatte. Nachdem er seine Tasse abgestellt hatte, stand er auf und ging langsam zum Kamin, vor dem ein braunes Ledersofa stand. Mit einem Aufstöhnen setzte er sich hin, streckte sich lang aus und schloss die Augen.
Er musste sich ausruhen. Er schien sich nicht mehr als eine Minute konzentrieren zu können. Die Organisation, die er mit aufgebaut hatte, brauchte Köpfe, die jederzeit einsatzbereit wa ren. Seine Schwäche war gefährlich. In seiner Welt überlebten nur die Stärksten, und das höchste Ziel war es, möglichst viel Geld und Macht zu erringen. Stärke war Macht. Macht war Kontrolle. Um in der Welt, die er entscheidend mitgeprägt hatte, weiterhin herrschen zu können, musste er die Kontrolle behalten. Müde schloss Pharaoh die Augen. Die Stille, die ihn umgab, wirkte einschläfernd, und ehe er sich versah, wandelte er im Traum die Pfade der Vergangenheit entlang.
Albuquerque, New Mexico
Die zehnjährige Frankie Romano kicherte über den Jungen, der draußen vor dem Fenster des Klassenzimmers Faxen machte. Seit sechs Jahren gab es in ihrem Leben keinen wichtigeren Menschen als Pharaoh Carn. Pharaohs Aufmerksamkeit war für das vom
plötzlichen Tod seiner Eltern traumatisierte und nach Liebe hungernde Kind die Rettung gewesen.
Obwohl er nicht mehr im Waisenhaus lebte, war Pharaoh Carn dort jetzt als Gärtner tätig. Nachdem er vor einem Jahr volljährig geworden war, war er aus dem Heim ausgezogen und hatte sich ganz in der Nähe ein kleines Apartment gemietet.
Rein äußerlich unterschied er sich nicht von den anderen Ju gendlichen seiner Umgebung. Aber das Äußere trog. Pharaoh hatte eine Vorliebe für Luxusgüter aller Art entwickelt, doch da er nicht über das Geld verfügte, um diese auf legalem Weg zu er werben, war er auf die schiefe Bahn geraten. Pharaoh wollte alles - und zwar sofort.
Mit sechzehn war er Mitglied einer Straßenbande geworden. Was nicht ganz einfach gewesen war, weil er über seine Zeit nicht so frei verfügen konnte wie die anderen Jugendlichen. Er hatte jedoch rasch gelernt, die Beschränkungen, die ihm auferlegt waren, geschickt zu umgehen. In den vergangenen drei Jahren hatte er sich zahlreiche Fer tigkeiten angeeignet. Autos zu knacken war bald ein Kinderspiel für ihn, und nachdem er sich an kleineren Einbrüchen geübt hat te, war es bis zur Beteiligung an bewaffneten Raubüberfällen nur noch ein Schritt gewesen. Obwohl er jetzt bereit sein musste zu töten, hatte er seine Waffe auch früher schon zum Einsatz ge bracht. Seit er eine eigene Wohnung hatte, fuhr er ein schönes Auto, kaufte sich teure Klamotten und trug einen funkelnden Brillanten im Ohr. Er sah gut aus mit seinen dunklen Augen und den schwarzen Haaren, und die Mädchen mochten ihn. Er nahm sie sich wahllos, um sie nach Gebrauch fallen zu lassen wie leere Bierdosen.
Allerdings hatte Pharaohs Auszug aus dem Waisenhaus auch einen Haken. Pharaoh war jung und stark und gierig. Er
hatte nie gelernt zu verzichten, und nun musste er Francesca zurücklassen.
Abergläubisch, wie er war, war er der festen Meinung, dass Francesca Romano sein Schicksal war - dass er nur in einer Ver bindung mit
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