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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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egoistisch die internationale Aufmerksamkeit für seine theatralischen Aufführungen auf sich zu lenken, sollte von Kempelen seine Erfindung der Wissenschaft zur Verfügung stellen! Und wer spricht überhaupt von einer Erfindung? Wenn von Kempelen ein physikalisches, mathematisches oder chemikalisches Gesetz entdeckt hat, kann er denn darauf Besitzanspruch erheben? Sind die Naturgesetze nicht Allgemeingut, gehören sie nicht uns allen? Stellen Sie sich vor, Newton hätte die Schwerkraft für sich gepachtet? Kann jemand die Gesetze der Optik besitzen? Können mathematische Axiome verheimlicht werden? Ich frage Sie! Hat von Kempelen das Recht, seine Entdeckung für sich zu behalten? Die Gesetze der Physik bringen nicht nur die Mechanik weiter, sie nützen auch der Wirtschaft und der Medizin. Ich frage Sie also: Darf es sein, dass ein einziger Mann allein aus Lust an der eigenen Bedeutung und aus Hunger nach Ruhm den Forstschritt der gesamten Menschheit aufhalten, ja gar gefährden kann? Und weil die Antwort offensichtlich ist, meine Damen und Herren, werde ich Ihnen nicht nur einen Schachautomaten vorführen, sondern eine hochentwickelte mechanische Dame und Ihnen diese bis ins letzte Detail genau erklären. Ich werde Ihnen zeigen, wie diese intelligente Maschine konstruiert ist, was sie kann und auf welche Weise die strategischen, kombinatorischen und intelligenten Entscheidungen getroffen werden.

    So sprach Montallier eine ganze halbe Stunde, ohne in irgendeiner Weise anzudeuten, wie er es geschafft hatte, von Kempelens Schachautomaten nachzubauen. Im Café de la Régence war es ruhig geworden. Niemand unterbrach ihn. Niemand erhob seine Stimme gegen ihn. Niemand meldete Zweifel an. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Montallier es geschafft, sich im Kreis der wissenschaftlichen, politischen und sozialen Elite Gehör zu verschaffen. Die ewig zweifelnden und von Konkurrenz zerfressenen Geister waren verstummt und verharrten in abwartender, verunsicherter Stellung. Er, Montallier, das wusste er, war nicht nur drauf und dran, die Wahrheit ans Licht zu zerren. Er setzte sich auch einer ganzen Schar machtgieriger Scharlatane aus, die nur darauf warteten, ihn und sein ganzes Unternehmen gesellschaftlich zu ruinieren.
    »Das Spiel meiner Grande Dame gegen den Schachtürken ist auf nächste Woche, den vierundzwanzigsten Juni, angesetzt, in Versailles«, sagte er noch. »Ihre Majestät Marie Antoinette wird der Vorführung höchstpersönlich beiwohnen. Bitte melden Sie sich an, die Plätze sind limitiert. Der Baron von Kempelen und seine Helfer befinden sich bereits in der Stadt.«
    Ein Raunen ging durch das Café, und Montallier genoss dieses Geräusch, als hätte er eben eine Partie gegen Monsieur Philidor, den besten aller Schachspieler ganz Europas, gewonnen.
     
    Montallier hatte kaum Zeit, seinen Rock gegen das Nachthemd zu tauschen und sich schlafen zu legen, als man in der Sache des Schachautomaten an seine Haustür klopfte. Die Rede im Régence zeigt Wirkung, dachte Montallier
und ließ die Herren eintreten. Aber statt neugieriger Wissenschaftler aus dem Café betrat ein junger, in schmutzigen, ausgetragenen Kleidern steckender Kurier das Studierzimmer und blickte den Hausherrn aus seinen hellen Augen spitzbübisch an.
    »Der Baron läßt ausrichten«, stotterte der Jüngling, »er wünsche den Monsieur Montallier noch vor dem auf den vierundzwanzigsten angesetzten Spiel zu treffen. Herr von Kempelen wünsche ebenfalls, von der Grande Dame einen Augenschein nehmen zu dürfen, wenn das dem Herrn Montallier recht sei.«
    »Kommt nicht infrage!«, schrie Montallier und sprang von seinem Sessel auf. »Was fällt dem Tölpel denn ein? Will er mir ein Angebot machen? Will er etwa seine Lügereien erkaufen? Zum Teufel mit ihm!«
    Montallier zitterte vor Erregung. Allein die Vorstellung, dass von Kempelen sein Haus und seinen Keller betreten könnte, brachte ihn außer sich. Aber der trotzige Kurier ließ sich nicht so leicht abwimmeln und wollte wissen, was er dem Baron denn nun mitteilen solle. Montallier gab ihm eine heftige Ohrfeige und drängte ihn zur Tür. »Dass du dich hier auch ja nicht mehr blicken lässt!«, schrie er und stieß den schlaksigen Boten die Treppe hinunter.
    Aber der Baron von Kempelen war nicht der Einzige, der sich für die Grande Dame interessierte. Am darauffolgenden Morgen saß Montallier vor einem nobel gekleideten Herrn im besten Alter, wie Montallier fand, da er etwa so alt zu sein schien

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