Das taube Herz
wie er selbst. Dieser Herr händigte ihm ein Schreiben aus, das von der Königin Marie Antoinette höchstpersönlich gezeichnet war und das königliche Siegel trug.
»Ihre Majestät wünscht«, begann der Überbringer des Schreibens, »dass zwei Experten die Grande Dame im Voraus in Augenschein nehmen dürfen. Nicht dass an Ihren technischen und künstlerischen Fähigkeiten gezweifelt würde, Herr Montallier, verstehen Sie das Schreiben nicht falsch. Zu viel Talent haben Sie durch den Bau der Hof- und Kirchenorgeln bereits unter Beweis gestellt. Auch Ihre Arbeiten im Bereich des Prothesenbaus sind der Majestät nicht unkenntlich geblieben.«
»Wer hat den Hof darüber informiert?« rief Montallier vor Schreck. Er hatte seine Zusatzaufträge auf diesem Gebiet immer geheim gehalten.
»Das ist jetzt nicht von Interesse, Monsieur Montallier. Die Visite ist auf übermorgen angesetzt, auf den zweiundzwanzigsten.«
»Und warum? Was ist der Grund?«
»Habe ich Ihnen das nicht schon erklärt?«
»Nein, haben Sie nicht!«
»Ihre Majestät Marie Antoinette möchte dem vorwiegend wissenschaftlichen Publikum und sich selbst unnötige Peinlichkeiten ersparen. Die Königin will einfach ganz sicher sein, dass Sie dem Schachtürken aus Österreich mit einem Automaten entgegentreten, welcher der ganzen Veranstaltung und dem erlauchten Publikum auch entspricht. Und Sie wissen, dass Sie mit Ihrer Aktion den Wiener gegen den Pariser Hof aufbringen. Es steht viel auf dem Spiel! Die Wissenschaft, unsere Akademie, es geht um die Ehre einer ganzen Nation! Und aus diesem Grund, Monsieur Montallier, erachtet es Ihre Majestät für angebracht, die Sache vorher etwas genauer zu prüfen.«
In der Tat hatte Montallier nicht mit einer solchen Eskalation
gerechnet. Und tatsächlich war es ihm ein Dorn im Auge, dass die Königin, der die Grande Dame gewidmet war, auch nur eine Sekunde an seinen technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten zweifeln konnte.
»Dann sollt Ihr es eben bewiesen bekommen!«, schrie Montallier und warf den amtlichen Brief in die Luft. Wie ein welkes Laubblatt flatterte das verhängnisvolle Schreiben zu Boden. »Und wo soll meine Grande Dame denn vorgeführt werden?«
2
Mit zwei Kübeln heißem Wasser, Bürsten, Seifen, einem Rasiermesser, Tüchern und frischen Kleidern platzte Montallier in den Keller. Ana, die sich seit einigen Wochen zum Schlafen an Jean-Louis’ warmen Rücken kuschelte, schreckte auf, hetzte wirr durch den Raum, raufte sich das verfilzte Haar, rannte in den hinteren Kerker, bewarf sich unter dem Ausstoß von ohrenbetäubenden Lauten mit Stroh, kam zurück und kletterte in den Hohlbalken im Innern des Automaten. Jean-Louis stemmte sich aus dem Schlaf und stürzte sich wie ein bedrohtes Tier schützend vor seine Konstruktion, schloss den Deckel des Hohlbalkens, und Anna beruhigte sich.
»Hier!«, rief Montallier und warf die Bürsten, Seifen und Tücher auf den Tisch. »Damit putzt ihr euch raus. Übermorgen wird die Grande Dame vorgeführt!« Er klappte das Rasiermesser auf. »Dass mir das auch alles wegkommt«, zischte er und zupfte an Jean-Louis’ Bart, schnitt ihm angewidert ein dickes Büschel Haare ab. »Und zieht mir diese Fetzen aus, ich hab euch frische Kleider gebracht.« Er näherte sich dem Automaten, dessen Vorderseite ganz aufgeklappt war, musterte den offen liegenden Mechanismus. Dann riss er den Deckel des Hohlbalkens auf. Ana schlug sich die Hände vors Gesicht und schrie aus voller Kehle.
»Dieses Biest hier, Sovary, das rasierst du mir kahl. Es wird ihr die Aufgabe erleichtern.« Montallier warf den Deckel wieder zu, und Ana verstummte.
»Morgen früh seid ihr sauber und frisch gekleidet. Es geht los!«, befahl Montallier noch, und so plötzlich wie er in den Keller gepoltert war, verschwand er auch wieder.
Jean-Louis tauchte seine Hände in die Eimer. Das Wasser war warm, fast heiß. Mit der nassen Hand strich er sich über das stoppelige, ausgetrocknete Gesicht. Er riss sich das Hemd vom Leib und beklatschte die Brust, den Bauch, die Arme. Dann tauchte er den ganzen Kopf in den Eimer und genoss dieses warme Nass, als tauchte er in einen See.
»Ana!«, rief er begeistert. »Ana! Wasser!«
Vorsichtig öffnete er den Deckel des Hohlbalkens. Wie zuvor schlug Ana voller Panik die Hände vor ihr Gesicht, lautlos diesmal. »Das klingt nicht gut, das klingt nicht gut!«, flüsterte sie und zitterte am ganzen Leib.
Behutsam fasste Jean-Louis sie am Arm, löste langsam
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