Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
Vom Netzwerk:
die Hände von ihrem Gesicht. Ana behielt die Augen zugekniffen, das Gesicht verzerrt. Sanft zog Jean-Louis sie hoch und half ihr aus dem Kasten, führte sie zum Wassereimer. Dort tauchte er seine Hand ins warme Wasser und benetzte ihre Stirn. Ana schien zu erwachen. In ihrem Blick war Erstaunen, Überraschung, und sie schaute ihn an, furchtlos, mit weiten, offenen Augen. Zum ersten Mal seit all den Wochen und Monaten huschte ein leises Lächeln über ihr Gesicht, ein kurzes, kaum wahrnehmbares Aufflackern von Glück. Er fasste ihre Hand und führte sie langsam, ohne ihren Blick aus den Augen zu verlieren, zum Eimer, tauchte sie in das warme Wasser, hob sie hoch und legte ihre nasse Hand an die rissige, ausgetrocknete
Wange. Ana wiederholte die Geste, tauchte beide Hände in den Eimer und strich sich das warme Wasser wie Balsam ins Gesicht. Sie drehte das verfilzte Haar in ihrem Nacken zu einem Zopf und tauchte die Hände wieder und wieder ins Wasser, strich nun auch über Nacken und Hals und beugte sich über den Eimer, als wollte sie darin ertrinken. Jean-Louis legte Seife und Tücher bereit, zog die übrigen schmutzigen Fetzen aus und begann sich von Kopf bis Fuß einzuseifen. Vom Anblick seiner Nacktheit irritiert, wandte Ana sich von ihm ab und kauerte sich neben ihren Eimer.
    Jean-Louis nahm sie erneut am Arm, zog sie hoch und stellte sich in ihren Rücken. Vorsichtig knöpfte er ihr das von Motten zerfressene Kleid auf, riss dabei einige lose sitzende Knöpfe ab und entdeckte, dass Ana seit Monaten, wenn nicht sogar seit Jahren, mehrere Kleider übereinander getragen hatte. Die Motten hatten sich bis in die innersten Schichten durchgefressen. Ana rührte sich nicht, während er behutsam eine Hülle um die andere von ihr ablöste und zu Boden sinken ließ. Sie hielt ihn nicht auf, rührte sich nicht, ließ ihn einfach gewähren. Die Stoffe waren so spröde, dass sie sich wie alte Rindenstücke lösten. Jean-Louis schälte ihren mageren, bleichen Körper aus diesen vor Schmutz dunkel und schwer gewordenen Hüllen, als legte er ihre von Leid, Not und Schmerz gepeinigte Vergangenheit Jahr um Jahr ab. Die Hemden und Röcke, Strümpfe und Binden wollten kein Ende nehmen und zeugten von unerbittlichen Versuchen des Selbstschutzes, der Verhüllung vor der Welt. Ana hatte sich einen Kleiderpanzer zurechtgeschneidert und sich darin verkrochen. Ihr Körper war noch viel dünner und magerer, als es bisher
den Anschein gemacht hatte. Der Kleiderberg am Boden wuchs, während Ana dünner und dünner wurde und aufrecht, mit kerzengeradem Rücken und hochgerecktem Kopf dastand und sich nicht rührte.
    Nachdem er sie ganz enthüllt hatte und Ana nackt vor ihm stand, griff Jean-Louis zum Rasiermesser, fasste das dicke Haar und schnitt ein dickes Büschel ab. Ana rührte sich nicht. Er schnitt ein zweites, ein drittes Büschel ab und ließ den dunklen Filz zu Boden fallen. Nach und nach schnitt er das Haar zu kurzen Stoppeln. Er löste sich von ihr und stutzte sich selbst mit wenigen, raschen Handbewegungen den Bart und das wilde Kopfhaar. Danach legte er das Rasiermesser in ihre Hand und führte diese an seinen Kopf. Ana zögerte, aber dann schnitt auch sie ihm eine Strähne nach der anderen ab. Jean-Louis seifte sich den Kopf ein, dann den ihren. Vorsichtig schabte er die Stoppeln von ihrem Kopf und legte die weiße Haut frei. Ana schloss die Augen, ließ es geschehen und bewegte sich nicht. Aufrecht stand sie da, befreit von all den Hüllen und dem Schmutz, herausgeschält aus ihrem alten Leben.
    Jean-Louis legte das Messer erneut in ihre Hand und hielt ihr den Kopf hin. Leicht zitternd führte sie das Rasiermesser über seinen dargebotenen Schädel, schälte auch ihn aus einer von Staub und Schmutz verdickten Hülle.
    Als sie fertig war, wusch er sich von Kopf bis Fuß. Dann legte er ein Stück angefeuchtete Seife auf ihren Rücken und strich damit sanft über ihr knochiges Rückgrat, hinauf bis zum Kopf und wieder zurück, strich über Hüften und Schenkel, hinunter bis zu den Füßen und von dort wieder zurück zur Schulter. Er nahm ihren linken Arm und seifte
auch ihn ein. Ana hielt die Augen geschlossen und ließ es geschehen, folgte offensichtlich den Bewegungen der Seife auf ihrer Haut, folgte ihr auf dem Weg über den Nacken zur Brust, den Bauch, folgte ihr die Beine hinunter und wieder zurück. Und als Jean-Louis absetzte, um die Seife niederzulegen, nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch, damit er

Weitere Kostenlose Bücher