Das Testament der Götter
eine Unterredung gehabt; dann hatte er seinen wichtigsten Untergebenen Anweisungen erteilt und Einsicht in die aus den Gauen kommenden Berichte genommen. Anschließend hatte er seine tägliche Anhörung eröffnet, in deren Verlauf die mannigfachen Vorgänge verhandelt worden waren, über die die anderen Gerichte nicht hatten entscheiden können. Vor einem schlichten Mittagsmahl bewilligte der Wesir meist einige Einzelunterredungen, soweit ihre Dringlichkeit dies rechtfertigte. Er empfing den Vorsteher der Ordnungskräfte in einem strengen Arbeitsraum, dessen nüchterner Zierat keinerlei Vorstellung von der Größe seines Amtes erweckte: Stuhl mit Rückenlehne, Aufbewahrungstruhen und Papyruskästchen. Man hätte sich einem schlichten Schreiber gegenüber gewähnt, wäre Bagi selbst nicht mit einem langen Gewand aus dickem Gewebe bekleidet gewesen, das allein die Schultern frei ließ. Seinen Hals zierte eine Kette, an der ein riesiges kupfernes Herz hing, das seine unerschöpfliche Fähigkeit beschwor, Klagen und Beschwerden anzunehmen.
Groß, gebeugt, ein längliches Gesicht, das von einer vorspringenden Nase beherrscht wurde, gelocktes Haar, blaue Augen: Wesir Bagi, ein Mann von sechzig Jahren mit steifem Körper, der sich keinerlei Leibesertüchtigung unterzog und dessen Haut die Sonne fürchtete. Seine feinen und vornehmen Hände verfügten über die Gabe des Zeichnens; in seiner Jugend war er Handwerker gewesen, später dann Lehrer im Schreibsaal und schließlich sachverständiger Landvermesser geworden. In dieser Eigenschaft hatte er eine Genauigkeit ohnegleichen an den Tag gelegt und die Aufmerksamkeit des Palastes auf sich gezogen, so daß er nacheinander zum Obersten Richter des Gaues Memphis, Ältesten der Vorhalle und schließlich zum Wesir ernannt worden war. Etliche Höflinge hatten – vergebens – versucht, ihn bei einem Fehler zu ertappen; gefürchtet und geachtet schrieb Bagi sich in die Reihe der großen Wesire ein, die, seit Imhotep, Ägypten auf dem rechten Wege führten. Wenn man ihm bisweilen auch die Strenge seiner Urteile und deren unnachgiebige Anwendung vorhielt, bestritt doch niemand deren Unanfechtbarkeit.
Bisher hatte Monthmose sich damit begnügt, den Befehlen des Wesirs zu gehorchen und ihm nicht zu mißfallen. Diese Begegnung jetzt bereitete ihm Unbehagen.
Der ermüdete Wesir schien zu schlummern. »Ich höre Euch zu, Monthmose. Faßt Euch kurz.«
»Das ist nicht so einfach …«
»Vereinfacht.«
»Mehrere Altgediente sind bei einem Unfall, nämlich durch einen Sturz vom Großen Sphinx, ums Leben gekommen.«
»Und die behördliche Untersuchung?«
»Die hat das Heer durchgeführt.«
»Ungewöhnlichkeiten?«
»Dem scheint nicht so. Ich habe die amtlichen Schriftstücke nicht eingesehen, jedoch …«
»Jedoch haben Eure Beziehungen Euch ermöglicht, deren Inhalt zu erfahren. Das ist nicht sehr rechtmäßig, Monthmose.«
Der Vorsteher der Ordnungskräfte hatte diesen Angriff befürchtet. »Es sind alte Gewohnheiten.«
»Ihr werdet sie ändern müssen. Wenn es keine Ungewöhnlichkeiten gibt, welches ist dann der Grund Eures Besuchs?«
»Richter Paser.«
»Ein unwürdiger Gerichtsbeamter?« Monthmoses Stimme wurde näselnder. »Diese Anschuldigung möchte ich nicht äußern. Es ist vielmehr sein Betragen, das mir Sorgen macht.«
»Achtet er das Gesetz nicht?«
»Er ist davon überzeugt, daß das Verschwinden des Oberaufsehers, eines Altgedienten von ausgezeichnetem Ansehen, sich unter ungewöhnlichen Umständen zugetragen habe.«
»Hat er Beweise?«
»Nicht einen. Ich habe den Eindruck, dieser junge Richter will eine gewisse Unruhe säen, um sich einen Namen zu machen. Ich beklage diese Haltung.«
»Ihr seht mich darüber hocherfreut, Monthmose. Und zum Kern der Angelegenheit, welches ist da Eure Meinung?«
»Sie ist kaum von Wert.«
»Im Gegenteil. Ich brenne darauf, sie zu erfahren.« Die Falle stand weit offen.
Der Vorsteher der Ordnungskräfte verabscheute es, sich in der einen oder anderen Richtung zu verpflichten, fürchtete er doch, eine klare Stellungnahme könnte ihm vorgehalten werden. Der Wesir schlug die Augen auf. Sein blauer und kalter Blick drang bis in die Seele.
»Es ist wahrscheinlich, daß nichts Geheimnisvolles den Tod dieser Unglücklichen umgibt, jedoch kenne ich den Vorgang nicht gut genug, um mich abschließend darüber auszusprechen.«
»Wenn der Vorsteher der Ordnungskräfte selbst einen Zweifel äußert, weshalb sollte dann ein Richter
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