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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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machen.
    »Mach schon«, sage ich.
    »Hör auf, Jess, du hast mich verletzt.«
    »Willst du, dass ich dich töte?« Ich bewege die Scherbe, bis sie sein Hemd berührt. Ich habe Angst, in Tränen auszubrechen. Er weicht einen kleinen Schritt zurück. »Gut so. Geh weiter.«
    Langsam geht er rückwärts ins Schlafzimmer, dicht verfolgt von meinem Dolch. Ich bin okay. Ich habe alles unter Kontrolle. Als wir durch die Tür durch sind, sehe ich genau das, was ich mir erhofft habe – die Fahrradschlösser liegen noch dort, wo er sie aufgeschlossen hat. »Nimm die Schlösser«, sage ich. »Schön langsam.« Er bückt sich und hebt beide mit der Linken hoch. Die Rechte hält er von sich weg, das Blut tropft noch, aber vielleicht etwas langsamer als gerade eben. »Und jetzt ins Bad«, befehle ich ihm. Langsam geht es zurück. Im Bad befehle ich ihm, sich ein Schloss um den Fußknöchel zu winden, so wie er es bei mir getan hat. Seine Beine und seine Hosen sind dicker, deshalb passt es nur zweimal darum.
    »Okay, und jetzt schließ ab. Und jetzt das andere Schloss hinter dem Handtuchhalter durchführen, dann durch das Schloss an deinem Bein und abschließen.«
    Er hält inne und schaut zu mir hoch. »Um Himmels willen, Jess.«
    »Du hast mir das Gleiche angetan.«
    Bevor er die beiden Schlösser miteinander verbindet, richtet er sich auf und sieht mich an. »Und wenn ich mich weigere, was willst du dann tun?«
    »Ich hab’s dir gesagt.«
    »Ich blute bereits, Jess.«
    »Je mehr du dich beeilst, desto eher kommt der Arzt.«
    Er steht da und schaut mich an. Ich zwinge mich, seinen Blick zu erwidern. Er muss mir gehorchen. Er muss mir glauben. Er blickt auf seine blutende Hand nieder, und ich rücke mit der Glasscherbe ein Stück vor. Bitte lass ihn gehorchen, bitte …
    »Mach das Schloss zu. Mach schon!« Ich kreische. Er geht rasch in die Hocke, drückt das Schloss zu, richtet sich wieder auf und hält die Hand hoch. Sie blutet noch immer. Wie tief ist der Schnitt? Ist er tief? Es muss klappen. »Wo ist der Schlüssel?«
    »Was? Jessie, mein Gott …«
    »Wo ist der Schlüssel?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Dreh die Taschen um.«
    Er greift mit der Linken in die Hosentasche und holt allerhand Zeug hervor, es fällt auf den Boden. Zwischen dem Kleingeld, den Haustürschlüsseln, einem Taschenmesser und Flusen ist auch ein Metallring mit zwei kleinen silbrigen Schlüsseln.
    Ich befördere sie mit einem Fußtritt aus seiner Reichweite und trete auf den Flur. Er hockt neben dem Handtuchhalter und sieht mich an. »Jess. Du musst das nicht tun. Bring mich um, wenn’s sein muss. Aber geh nicht wieder in die Klinik.«
    »Ich rufe einen Arzt. Ich werd Mum sagen, wo du bist.« Ich zittere.
    »Jessie. Bitte, Jessie, bitte geh nicht …« Er weint. Meine Beine sind dünne Spaghetti. Vertrau mir, so ist es am besten. Das muss ein Ende haben, und ich habe jetzt das Sagen. Ich bin die Einzige, die weiß, was sie zu tun hat. Dads Gesicht ist blutverschmiert, denn er hat sich die Augen gewischt, Blut tropft von seinem Arm, wie konnte es nur so weit kommen?
    »Es tut mir leid. Es tut mir leid! « Ich werfe die Glasscherbe weg, schnappe mir meine Schuhe und renne die Treppe hinunter. Ich reiße den Riegel zurück und sperre das Schloss auf, dann ziehe ich die Schuhe an. Dad ist oben. Er kommt mir nicht nach. Er ist an den Handtuchhalter gefesselt. Als ich mir die Schuhe geschnürt habe, beginne ich zu laufen. Er ruft mir nach: »Jessie! Je-e-ess-iiiie!«
    Ich sauge die kalte, feuchte Luft in die Lunge und renne, renne weg vor seiner rufenden Stimme.

30
    Man hat mir und Rosa Zimmer im zweiten Stock zugewiesen. Hier können die Angestellten übernachten, wenn sie Spät- oder Frühschicht haben. Wir schauen in den Park und zur anderen Seite der Hauptstraße. Am ersten Abend saß ich am Fenster und beobachtete, wie es dunkel wurde. Ich war ganz ruhig. Und froh darüber, nach dem verrückten Durcheinander der letzten Tage in sicherer Obhut zu sein. Lange saß ich einfach nur da und genoss den Frieden. Mein Gehirn war dabei ausgeschaltet, es trieb hin und her wie ein auf einem See vor Anker liegendes Boot. Ruhe hüllte mich ein.
    Als es draußen dämmerte, kam mir eine Frage in den Sinn. Ich beobachtete, wie der Berufsverkehr die Straße verstopfte. Nachdem ich eine Weile im Dunkeln gesessen hatte, beschloss ich, Mr. Golding aufzusuchen und ihn zu fragen. Sein Büro lag am Ende des Flurs, hinter dem Sekretariat. Ich wusste nicht, ob er noch da
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