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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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vorstellen, etwa einen Fisch, der wie ein Pfeil über dem Meeresboden dahinschießt. Und an die Taschen der Seepferdchen, die man am Strand findet und in denen die Strahleneier wohlbehalten übers Meer gereist sind. Vielleicht kommt dir das passender vor. Wenn nicht, ändere deinen Namen. Mir soll’s recht sein!
    Es ist seltsam, dir zu schreiben – ich kann einfach nicht glauben, dass ich dich nie zu Gesicht bekommen werde, Rae. Du wirst mich sehen – Mum und Dad haben jede Menge Fotos und Urlaubsvideos, es wird dich zu Tode langweilen, mich im Meer planschen und Eis schlecken zu sehen. Vielleicht komme ich dir zu jung vor für eine Mum. Aber nein – natürlich werden in deiner Welt alle Mütter so jung aussehen.
    Ich möchte dir eines sagen, mein Schatz. Wenn das Implantat, das man mir am Montag einsetzt, nicht anschlägt – wenn sich meine Schwangerschaft nicht bis zum Wochenende bestätigt hat –, werde ich es nicht noch einmal versuchen. Die Möglichkeit, dass ich nicht schwanger werde, ist mein letzter Strohhalm. Wenn ich schwanger werde, bedeutet das, du sollst leben. Wenn nicht, dann nicht – das heißt, es wird dich nicht geben! Du wirst das hier nicht lesen. Und ich werde am Leben bleiben und nach Eden gehen.
    In der Nacht waren ständig Polizeisirenen zu hören. Heute früh sind in der Nebenstraße am Park viele Einsatzwagen vorgefahren, und Polizisten mit Schutzschilden sind über die Straße gerannt. Das Fenster lässt sich nicht öffnen, aber ich habe Geschrei und Sprechchöre gehört. Ich habe den kleinen Fernseher in der Ecke eingeschaltet, und es war schon merkwürdig, den Haupteingang dieses Krankenhauses zu sehen. Es gab heftige Proteste. FLAME -Demonstrantinnen natürlich, aber auch ein paar Frauen mit den purpurroten Transparenten von Mütter für das Leben und ein Sprechchor der Noahs. Auch ALF -Kids waren dabei, der Kommentator meinte, die Polizei nehme die Drohungen sehr ernst. Ich stellte den Ton ab. Ich sah, wie die Menschen vorrückten und kämpften und mit den Armen fuchtelten und wie die Polizei sie zurückdrängte, und mir wurde langweilig dabei. Sollen sie ruhig machen, dachte ich. Sie werden weitermachen. Sie werden genauso weitermachen, sich prügeln, sich mit Gegenständen bewerfen, blindlings auf die Welt einschlagen – so lange, bis sich ein Weg in die Zukunft auftut. Bis die neuen Kinder zur Welt kommen. Ich tippte auf die Fernbedienung, und die wogende Menschenmenge verschwand.
    Mr. Golding kam mich am Morgen besuchen und brachte mir ein Einwilligungsformular mit, das ich unterschreiben sollte. Er sagte mir, dass im Moment niemand herein- oder hinauskomme. Die Belegschaft habe im Krankenhaus übernachtet. »Wir stehen unter Belagerung!«, scherzte er. FLAME -Aktivistinnen hätten sämtliche Eingänge blockiert. Mehrere Tierbefreier seien festgenommen worden. Er meinte, das Krankenhaus verfüge über ausreichend Vorräte. »Wir hoffen, dass sie irgendwann müde werden und nach Hause gehen«, sagte er. »Wir gehen einer Eskalation aus dem Weg. Aber wir müssen Ihre Eltern informieren.«
    Ich war erleichtert, dass Mum ans Telefon ging, doch sobald sie meine Stimme hörte, brach sie in Tränen aus. Sie wiederholte in einem fort, es sei noch zu früh. Eine Unterhaltung war das nicht, sondern eine ständige Wiederholung gegensätzlicher Standpunkte.
    Ich: Mir geht’s gut, ich bin an dem Ort, wo ich sein will .
    Mum: Du brauchst mehr Zeit .
    Schließlich sagte ich ihr, wir würden uns bald sehen, und legte auf. Ich wollte meine Zuversicht und Gelassenheit für dich bewahren, in meinem Ruhezustand verharren und vorwärtstreiben.
    Den ganzen Tag lang schrieb ich, hielt hin und wieder inne und schaute zum Himmel hinaus, zu den unendlich langsam sich bewegenden Wolken. Am Nachmittag klopfte Rosa an, und ich sagte ihr, ich würde sie später besuchen. Wir aßen zusammen zu Abend, anschließend unterhielten wir uns lange. Sie war anders. Ich weiß noch immer nicht, ob ich alles glauben soll, was sie sagt, aber ich glaubte ihr, als sie meinte: »Mir passiert nie was Gutes.« Sie hat ihren Dad nie gekannt. Der Freund ihrer Mum war gemein zu Rosa und wollte Sex mit ihr haben. Sie hatte niemanden, mit dem sie hätte reden können, und wusste sich nicht zu helfen. Da lief sie von zu Hause weg. Sie fuhr nach London und schlief in einem Hostel. Um an Geld zu kommen, hatte sie Sex mit Männern. Als ihre Mum ihren Freund rauswarf, ging sie wieder nach Hause, aber sie und ihre Mutter hatten
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