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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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fehlen – aber es hätte sowieso keinen Sinn gehabt, sie anzuziehen, wenn ich nur baden wollte. Als ich fertig angezogen bin, klappe ich den Toilettendeckel herunter, setze mich darauf und denke nach.
    Alles Bewegliche im Raum ist aus Plastik. Es gibt nichts, womit ich das dicke, wolkige Fensterglas zerschmettern könnte. Denk nach. Schau dich um. Noch einmal. Über der Wanne, etwa dreißig Zentimeter unter der Decke, ist ein gebogenes Metallrohr für den Duschvorhang angebracht. Nicht dass Oma jemals in der Wanne geduscht hätte. Aber die Stange ist da, über den Wasserhähnen festgedübelt. Dann führt sie an der Wanne entlang, knickt ab und ist am anderen Ende ebenfalls befestigt. Ich stelle mich auf den Wannenrand und betrachte das Rohr. Vielleicht kann ich die Schrauben lösen. Das Metall ist matt und schmutzig, die Schrauben auf den Kacheln sind verrostet. Dann entdecke ich eine Nahtstelle. Das Rohr besteht aus drei Teilen; aus zwei geraden und einem gebogenen Eckstück. Ich balanciere zur Ecke der Wanne und versuche, das Rohr zu verbiegen. Ich packe es an beiden Seiten der Nahtstellen, dann gibt es auf einmal ein bisschen nach. Noch ein Ruck, und ich kann es auseinanderziehen. Jetzt lässt sich auch die andere Nahtstelle bewegen und das Eckstück herausziehen. Die langen, geraden Rohrteile sind noch an der Wand befestigt. Dad klopft an die Tür. »Jess? Bist du fertig?«
    »Gleich.«
    Mit dem gebogenen Rohr springe ich auf den Boden. Es ist innen hohl, deshalb ist es relativ leicht – aber wenn ich genug Kraft dahinterlege … Ich schwinge das Rohr versuchsweise hin und her, dann schmettere ich es mit aller Kraft gegen das Fenster. Es knackt, das Glas bekommt Risse.
    »Was machst du da?«
    »Ich habe nur …« Ich betätige die Toilettenspülung, damit er mich nicht versteht, und schlage erneut zu. Das Glas zerbricht. Ich steige auf die Wanne und spähe nach draußen; es ist ein weiter Weg bis zum Boden. Im Film wäre jetzt ein Regenrohr in Reichweite, an dem ich hinunterklettern könnte, doch in diesem Fall befindet es sich wohl an der anderen Hausseite.
    »Jessie!«, ruft er. »Jessie, lass mich rein!«
    In der Unterseite des Fensterrahmes steckt noch eine große, dreieckige Scherbe. Ich fasse sie mit Daumen und Zeigefinger und ziehe vorsichtig daran. Ja, sie lässt sich herausziehen. Die Scherbe ist schwer. Ein langes, scharfes Dreieck, an dessen Unterseite noch der Kitt haftet.
    Er hämmert gegen die Tür. »Da kommst du nicht raus. Mach dich nicht lächerlich! Lass mich rein!«
    Kalte Luft strömt durchs Fenster herein, mein Kopf wird klarer. »Ich will nicht rausklettern«, sage ich. »Beruhig dich, lass mich die Zähne putzen.« Ich lege die Glasscherbe weg und drehe das Wasser auf. Mit dem spitzen Ende streife ich über meinen Daumen. Scharf. Die gerade Kante mit dem Kitt ist stumpf, aber es wäre nicht gut, wenn das ganze Ding in Stücke brechen würde. Ich versuche, das gerade Ende durchs Handtuch hindurch zu packen, aber es ist zu unförmig. Mein schmutziges T-Shirt ist dafür besser geeignet.
    »Jessie, es reicht. Mach die Tür auf, sonst trete ich sie ein.«
    »Ich sitze gerade auf dem Klo.« Ich muss das Überraschungsmoment für mich nutzen. Ich weiß, was ich tue, es fällt mir zu, gerade wie ich es brauche, ich kann darauf vertrauen. Ich werde ihn überlisten und entkommen. Die Waffe in der Rechten, betätige ich mit der Linken die Spülung und ziehe gleich darauf den Türriegel zurück. Ich reiße die Tür auf, und er steht direkt vor mir. Mein Glasdolch zielt auf seinen Bauch.
    »Jess …«
    »Hör mir zu.«
    »Leg das weg, bevor du dich schneidest.«
    »Hör zu!« Ich trete vor, berühre ihn fast mit der Scherbe. Er hebt die Hände an, beinahe hätte er gelächelt. Es ist richtig komisch, er wirkt wie ein schlechter Schauspieler in einem Western. »Wenn du nicht tust, was ich dir sage, steche ich zu.«
    »Das würdest du nicht wagen«, sagt er und bewegt die Rechte seitlich zum Glas, um es mir abzunehmen. Ich lasse nicht los. Er reißt seine Hand weg. Er gibt keinen Laut von sich, sondern starrt nur die hellrote Linie an, die sich auf seiner Handfläche gebildet hat.
    Es dreht mir den Magen um, doch ich muss weitermachen. »Siehst du, es ist mir ernst. Geh rückwärts ins Schlafzimmer.«
    »Sieh mal«, sagt er und streckt die Hand aus. Der Schnitt blutet jetzt, Blut tropft auf den Boden, Tropfen um Tropfen, immer schneller. Hoffentlich habe ich keine Arterie getroffen. Ich muss ein Ende
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