Das Testament der Jessie Lamb: Roman
musste an Lisa denken. »Du könntest auch in einem Kids’ House wohnen – im Rising Sun oder in dem Bauernhof in Wales.«
Davon hatte sie noch nicht gehört, und ich musste ihr alles erklären. Als ich meinte, sie bräuchte dort kein Geld, schüttelte sie ungläubig den Kopf.
»Man braucht immer Geld. Es würde sowieso nicht funktionieren. Die Leute würden nicht wollen, dass jemand wie ich alles kaputtmacht.«
Ich wollte ihr widersprechen. Aber welchen Sinn hätte es gehabt, ihr etwas vorzulügen? »Du bist anders«, sagte ich.
»Jep. Ich würde sie anpissen. Würde den ganzen Wein trinken und ihre Freunde vögeln und vergessen, die Hühner zu füttern.«
Ich konnte meine Frage nicht zurückhalten. »Hast du mit Baz geschlafen?«
»Klar.«
Es gab keinen Grund, weshalb mir das etwas hätte ausmachen sollen. Trotzdem brannten mir Tränen in den Augen.
»Siehst du?«, sagte sie und schlurfte zur Tür. »Jetzt bist du angepisst.« Sie zog die Tür hinter sich zu.
Ich deckte mich zu und atmete in die warme Dunkelheit hinein, bis es unter der Decke ganz warm und feucht war und ich den Kopf hervorstrecken und ein paarmal kräftig durchatmen musste. Meine Nase war verstopft, und mir war erst heiß und dann kalt. Es gab keinen Ort, wo ich hinkonnte.
Irgendwann schlief ich ein, und als ich erwachte, stand ein Frühstückstablett mit Orangensaft, Brötchen und kleinen Marmeladentöpfchen neben meinem Bett. Der Tee war kalt, doch ich trank ihn trotzdem. Es war bewölkt und windig, vom Bett aus sah ich die vorbeizie henden Wolkenmassen. Meine Schlafzimmeraussicht von zu Hause, aber ohne Buche. Ich stopfte mir das Kissen in den Rücken und betrachtete den Himmel.
Das mit Baz hatte nichts zu bedeuten. Es hätte natürlich etwas zu bedeuten gehabt, wenn wir beide achtzig Jahre vor uns gehabt hätten. Dann wäre genug Zeit gewesen, alles ins Lot zu bringen. Zeit, einander zu verstehen. Im Moment wusste ich nicht, ob er sie wirklich mehr mochte als mich, oder ob sie ihm bloß leidtat, oder ob er in einem Jahr überhaupt noch mit einer von uns beiden ausgehen würde. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Diese Sache musste ich mir aus dem Kopf schlagen. Ich würde sie nicht mehr danach fragen.
Ich blickte weiter zu den Wolken hinaus. Sie wanderten von links nach rechts am Fenster vorbei, mächtige, aufgeblähte Gebilde in verschiedenen Schattierungen von Grau und in unterschiedlicher Höhe dahinsegelnd. Die näheren Wolken bewegten sich schneller und glitten vor denen vorbei, die weiter vom Erdboden entfernt waren. Ich hatte mich für das Programm gemeldet, weil ich etwas bewirken wollte. Daran musste ich festhalten. Es würde eine seltsame Woche werden. Ich würde mich endgültig von Mum und Dad verabschieden müssen, und davor hatte ich Angst. Ich würde mit Rosa sprechen müssen. Aber die restliche kostbare Zeit gehörte mir, und ich konnte sie nutzen, wie ich wollte. Ich stellte das Tablett auf den Nachttisch, kleidete mich an, ging zum Sekretariat und bat um Schreibpapier.
Ich beschloss, meine Aufzeichnungen abzuschließen. Dad kann sie zu dem Stapel mit Oma Bessies Sachen legen.
Die Geschichte meiner Entscheidung. Für dich, mein Kind. Ich möchte, dass du meine Geschichte kennst – unsere Geschichte, deinen Anfang. Damit du verstehst, wie ich dachte und fühlte, damit niemand dir erzählen kann, ich wäre ein dummes, irregeleitetes Mädchen gewesen oder eine Marionette Iains. Ich will nicht, dass dich jemand für eine Bewegung oder eine Idee einspannt. Du bist frei und kannst dein Leben so leben, wie du möchtest. Dieser Gedanke macht mich froh. Du sollst vor allem wissen, dass ich froh bin. Froh darüber, dass es so gekommen ist.
Ich habe geschrieben und geschrieben, bis mir die Finger wehtaten und ich einen steifen Hals hatte; ich will meine Geschichte zum Abschluss bringen und dir erzählen, wie diese Woche verlaufen ist und wie ich mich im Moment fühle, bis zur allerletzten Minute. Aber jetzt, da ich mich an dich wende, muss ich dir einen Namen geben. Wie soll ich dich nennen? Ich weiß nicht einmal, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist. Lange habe ich mir den Kopf über deinen Namen zerbrochen und bin schließlich auf Ray gekommen (oder Rae, wenn dir das lieber ist). Ray wie Sonnenstrahl oder Hoffnungsstrahl. Aber wie alt wirst du wohl sein, wenn du das liest? Als ich dreizehn war, wäre ich vor so etwas Sentimentalem zurückgeschreckt. Vielleicht solltest du dir lieber einen anderen Strahl
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