Das Testament der Jessie Lamb: Roman
war, denn die Büroangestellten waren bereits nach Hause gegangen, aber ich ging trotzdem hin und klopfte. Er rief »Herein!«. In seinem Büro brannte nur die Schreibtischlampe. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur seinen Arm und die Hand, mit der er den Stift hielt.
»Jessie!«, sagte er. »Treten Sie ein, treten Sie ein. Was kann ich für Sie tun?« Er neigte die Lampe, bis sie die hinter ihm befindliche Wand beleuchtete. Der weiche Lampenschein breitete sich im Raum aus, bis ich den Eindruck hatte, der Schreibtisch, die Stühle und Bücherregale träten aus dem dunklen Schatten ins Helle hervor. Er forderte mich mit einer Handbewegung auf, im Ledersessel Platz zu nehmen.
»Woher sollen die Embryos – wenn sie erwachsen sind und heiraten –, woher sollen sie dann wissen, dass sie nicht miteinander verwandt sind?«
»Aha! Eine junge Genetikerin!« Er rieb sich erfreut die Hände, als wäre ich die schlaueste Schülerin in der Klasse. »Jeder Embryo hat eine Nummer – für die Eizellenspenderin – und eine Farbe, die den Samenspender kennzeichnet. Diese Unterlagen gehen an die Erziehungsberechtigten und müssen dem Kind bekannt gemacht werden. So. Lernt 2-Blau 2-Grün kennen, wissen sie, dass sie dieselbe Mutter haben. Ein 7-Rot-Mädchen und ein 4-Rot-Junge wissen, dass sie denselben Vater haben. Wir werden die Erziehungsberechtigten benachrichtigen, wenn ein Geschwister geboren wird. Es wird hilfreich für die Kinder sein, wenn sie wissen, dass sie Geschwister haben.«
Im Geiste sah ich eine Kinderkrippe mit lauter kleinen Goldings vor mir, alle kahlköpfig und mit kleinen Fliegen. Wie blöd kann man eigentlich sein? Erst jetzt hatte ich es begriffen. »Wie viele Farben gibt es?«, fragte ich.
Er zählte sie an den Fingern ab. »Rot, Gelb, Blau, Grün, Purpur, Braun. Sechs.«
»Einschließlich der Techniker?«
Er nickte. »Ali und Ihren Vater eingeschlossen.«
Wir schauten einander an in dem friedlichen Raum. Es war, als würde das Gebäude schlafen, als wären alle nach Hause gegangen.
Ich fragte mich, ob Dad sich davon beeindrucken lassen würde. »Spräche irgendetwas dagegen …?«
»Natürlich nicht. Sie sind die Leihmutter. Die Gene des Kindes stammen von dessen Mutter und Vater, nicht von Ihnen.«
»Das Kind könnte meine Halbschwester sein. Oder mein Halbbruder.«
Er nickte.
Ich dachte an das Baby zwei Etagen unter mir, das im Gefrierschrank still darauf wartete, sein neues Leben zu beginnen. Meine Halbschwester. Mr. Golding nahm einen Karton Papiertaschentücher vom Regal und reichte ihn mir. Dann trat er ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Als ich mir die Nase geschnäuzt hatte, drehte er sich um und sagte:
»Jessie. Sie sollten jetzt schlafen. Wenn Sie morgen noch etwas auf dem Herzen haben, unterhalten wir uns weiter, einverstanden?« Er nahm den Hörer ab und wählte, und ich hörte, wie er Rosa begrüßte. Ehe ich ihn daran hindern konnte, bat er sie, herzukommen und mich abzuholen. Als ich aus seinem Büro trat, kam sie mir auf dem Flur entgegen. »Gute Nacht, Jessie«, sagte hinter mir Golding leise. »Schlafen Sie gut.«
Rosa folgte mir aufs Zimmer und setzte sich auf den Stuhl am dunklen Fenster. »Du hast nicht das Handtuch geschmissen?«, sagte sie.
»Nein, ich hab mich nach den Samenspendern erkundigt.«
Sie nickte und schaute in die Dunkelheit hinaus. Ich wollte, dass sie ging. Aber sie würde bis zum Schluss in meiner Nähe sein; man hatte uns gesagt, dass man nach der Implantation ein paar Tage warten müsse, bis sich die Schwangerschaft bestätigt habe. Um sicherzugehen, dass der Embryo sich in einem festgesetzt hat. Ich würde die letzte Woche meines Lebens mit Rosa Davis verbringen müssen.
»Ich bin müde«, sagte ich.
Sie überging den Wink mit dem Zaunpfahl. »Ich auch. Hast du Angst?«
Nur vor anderen Menschen, dachte ich. Davor, dass sich meine Eltern wie Verrückte aufführen. Vor Baz, der mir nicht aus dem Kopf geht. Vor dir. »Nein. Du?«
»Nicht wirklich. Es kann schließlich nur besser werden, meinst du nicht auch?«
»Besser?«
»Besser als der ganze Mist, mit dem man sich Tag für Tag beschäftigen muss.«
Ich wollte ihr nichts von mir erzählen. »Zum Beispiel?«
Sie schaute mich direkt an. »Nicht genug Geld zu haben. Keinen Ort zum Leben zu haben. Dass sich alles in Scheiße verwandelt.«
»Ich dachte, du wohnst bei deiner Mum.«
»Dort kann ich nicht bleiben. Da hängen ihre Drogenfreunde ab, und ständig wird was geklaut.«
Ich
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