Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Gitterdrahtfenster zu spähen, doch im Labor war es dunkel, und ich sah nur mein eigenes Spiegelbild. Auch der Flur lag verlassen da; kein Mensch in Sicht, bei dem ich mich hätte erkundigen können. Ich musste wieder nach draußen gehen, zurück in den kalten, grauen Tag, ohne zu wissen, was ich tun sollte.
Ich marschierte zurück in die Stadt, und jetzt war ich verärgert. Das Ganze war idiotisch. Es war idiotisch gewesen, hierherzukommen und nach ihm zu suchen. Natürlich war er nicht auf der Arbeit – wenn er dort erschienen wäre, hätte Mum mit ihm gesprochen. Und er würde sich auch bestimmt nicht umbringen, der alte Zyniker – er lachte sogar über die Selbstmörder, die dem Sensenmann die Arbeit abnahmen. Weshalb verschwendete ich meine Zeit damit, ihm hinterherzulaufen und mir Sorgen zu machen, wenn er fortgegangen war, ohne einen Moment an mich zu denken? Wahrscheinlich besuchte er einen alten Freund oder war im Britischen Museum oder in irgendeiner fantastischen Bibliothek. War er dermaßen wütend auf Mum, dass ich ihm egal war? Wenn er mich im Stich ließ, konnte ich auch ihn im Stich lassen.
Weil ich hungrig war, bestellte ich mir bei The Eighth Day einen Räuchertofuburger und einen Aprikosenshake und nahm beides mit in den Bus. Der Aprikosengeschmack überschwemmte mich, Orange mit Hyazinthe, irgendwie sandig am Gaumen. Ich bedauerte, dass ich nicht gleich zwei Shakes gekauft hatte.
Als ich am College ankam, blieb mir bis zum Beginn der Geschichtsvorlesung noch eine halbe Stunde Zeit. Ich machte einen Schlenker an den Musikräumen vorbei und hatte Glück: Baz saß im Übungsraum am Flügel. Er schaute hoch und grinste, spielte aber weiter – ich trat in eine Sturzflut flirrender Töne hinein.
Ich wollte ihm von meinen Eltern erzählen. Warum auch nicht? Sein Dad konnte wenigstens nichts dafür, dass er verrückt geworden war; meine Eltern spielten verrückt, ohne eine Entschuldigung zu haben. Weshalb hätte ich sie in Schutz nehmen sollen? Baz beendete das Stück und sprang von der Klavierbank auf. »Nat weiß jetzt, was in Wettenhall vorgeht!«
»Was, wo?«
»In dem Tierlabor in der Nähe von Chester, bei dem sie Nachforschungen angestellt haben. Sie haben es geschafft, dort reinzukommen.«
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, wovon er redete, doch wie sich herausstellte, hatten die Tierbefreier von ALF schon lange versucht, dort einzudringen, und jetzt war es ihnen gelungen, die Tiere zu filmen, vollgestopft mit Medikamenten, gespickt mit Schläuchen und Kabeln, gefesselt und fixiert.
»Aber was tun die Forscher da? Es muss doch einen Grund geben.«
»Welche Entschuldigung kann es dafür geben? Ich fahre dorthin, sobald sich die Lage zu Hause beruhigt hat …«
»Was ist passiert?«
»Er ist im Krankenhaus. Mum war dagegen, aber ich habe trotzdem den Arzt alarmiert, und daraufhin haben sie ihn mit dem Krankenwagen abgeholt. Er war dermaßen außer sich, dass er erst mitbekam, was da vorging, als sie ihn schon rausgebracht hatten.«
»Wie geht es ihm?«
Baz zuckte mit den Schultern. »Mum besucht ihn zweimal täglich. Sie meint, er wäre ruhiger geworden. Ich weiß es nicht.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss los. Sie kommt bald nach Hause.« Er nahm das Metronom vom Flügel und verstaute es in seinem Rucksack.
»Baz?«
»Ja, die wissen, dass ich’s mitnehme. Meins ist kaputt, und ich bereite mich gerade auf eine Prüfung vor.« Er wandte sich zur Tür. »Mum regt sich schnell auf, ich sollte besser zu Hause sein, wenn sie heimkommt.«
Ich begriff, dass seine Mutter ebenfalls einen Knacks hatte. Ich begleitete ihn zum Spielfeldausgang und verabschiedete mich dort von ihm. Checkte mein Handy. Ich hatte ihm nicht von meinem Dad erzählt; er hatte auch so schon genug um die Ohren. Und sobald es seinen Eltern besserginge, würde er sich Nat anschließen und Tieren das Leben retten.
Sal hatte sich nicht wieder im College blicken lassen – sie hatte die ganze Woche gefehlt, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie aus Birmingham zurück war, deshalb ging ich auf dem Heimweg bei ihr vorbei. Sie war zu Hause und schaute gerade eine DVD . Sie drängte mich ins Wohnzimmer und wollte den Film neu starten. »Den musst du sehen, Jess, unbedingt. Das ist grauenhaft.«
Ich wollte keine DVD gucken, ich wollte mit ihr reden, doch es war aussichtslos. Der Film lief, bevor ich überhaupt zu Wort gekommen war. Und der Film handelte von – nun, inzwischen haben ihn alle gesehen. Aber zu dem
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