Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Gelände ist kaum größer als ein Fußballfeld!«
»Ich weiß«, sagte er, »das ist lächerlich.«
Ich erinnerte mich, dass ich so reglos wie eine Statue dastand, während mir das Herz bis zum Hals schlug. Wie ich auf das Knacken von Zweigen und das leise Knirschen der Baumnadeln lauschte, während das Geräusch seiner Schritte näher kam und sich dann wieder entfernte. Wie ich den Moment abschätzte, da ich zum Anschlag losrennen musste. Wenn ich gewann, raufte er sich stöhnend das Haar, und ich musste so heftig lachen, dass ich Schluckauf bekam. Wir passierten das Drehkreuz, marschierten den breiten Weg entlang und bogen dann auf den Pfad ein, der am oberen Staubecken entlangführt.
»Also, Jess«, sagte er. »Sollen wir jetzt darüber reden?«
»Mein Entschluss steht fest.«
»Was sagen deine Freunde dazu?«
»Sie wissen nichts davon. Ich soll mit niemandem reden.«
»Was war der Anstoß?«
»Du.«
»Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.«
»Du hast gemeint, es wäre notwendig. Da wäre es scheinheilig, wenn du …«
»Ich habe gesagt, es wäre notwendig. Damit habe ich nicht gemeint, es wäre notwendig für dich .«
»Jedes Mädchen, das sich für das Programm meldet, ist jemandes Tochter.«
»Stimmt.« Wir gingen schweigend weiter, unsere Schritte knirschten im Schnee. Ich hatte gewusst, dass er mich missverstehen würde – wie sollte es auch anders sein. »Ich tue das nicht, weil du mich auf die Idee gebracht hast. Ich tue das, weil ich es will.«
»Dann nenn mir deine Beweggründe.«
»Da gibt es viele.«
»Zum Beispiel, Jessie?«
»Wie sonst soll je wieder Normalität einkehren?« Er schwieg. »Frauen, die sterben müssen, wenn sie Kinder bekommen«, sagte ich. »Die Banden. Menschen, die sich umbringen wollen. Die Sachen, die wir bei YOFI besprochen haben.«
»Ah, YOFI . Dein Freund Iain. Was haben die dazu gesagt?«
»Nichts. Außerdem bin ich ausgetreten.«
»Hör mal, Jess, nur weil du irgendwelche Gedankensprünge vollführst, heißt das nicht, dass ich dir automatisch folgen kann.«
»Wenn man etwas zum Guten verändern möchte, nützt es nichts, anderen Leuten davon zu erzählen . Wie du selbst gesagt hast, muss jemand den ersten Schuss abfeuern.«
»Haben sie auch andere Mädchen gebeten, mit gutem Beispiel voranzugehen?«
»Niemand hat irgendjemanden gefragt.«
»Aber wollen nicht einige von den anderen Mädchen mitmachen?«
»Soviel ich weiß, nicht. Keine von ihnen war in der Klinik. Das kam schließlich nicht in den Nachrichten, oder?«
»Du hast es von mir erfahren«, wiederholte er.
»Früher oder später hätte ich’s sowieso erfahren.«
»Zu versuchen anders zu leben, und sich freiwillig zum Sterben zu melden, sind das nicht zwei ganz verschiedene Dinge?«
»Es geht um das Gleiche.« Ich hielt an und schaute den Weg zurück, den wir gekommen waren. Außer uns war noch niemand hier entlanggegangen, und wir hatten zwei funkelnde Fußspuren hinterlassen. Ich zeigte sie Dad. »Schau mal. Eine prima Fährte, falls uns jemand folgen will.«
»Ja«, sagte er zerstreut.
»Das perfekte Verbrechen«, meinte ich. »Man geht mit einer anderen Person zum oberen Ende des Staubeckens. Bringt sie um und zieht ihr die Schuhe aus, wirft die Leiche ins Wasser. Dann steckt man die Hände in die Schuhe und geht auf allen vieren zurück. Das perfekte Alibi.«
Er wirkt überrascht. »Du meinst das doch nicht ernst, oder?«
»Das mit dem Alibi?«
»Das mit der Teilnahme am Programm.«
»Nein.« Das sagte ich nur deshalb, weil ich nicht ewig darauf herumreiten wollte. Erwachsene werden manchmal so pathetisch, dann reißt einem der Geduldsfaden. Man ist ganz ernst bei der Sache, dann wechselt die Stimmung, weil irgendwas komisch ist, und man wird urplötzlich ausgelassen. Erwachsene marschieren immer weiter, als wären sie mit Steinen beschwert.
»Gut, dann lass uns über Wissenschaft reden.«
»Du wirst mich nicht davon abbringen.«
»In Ordnung. Aber da ich den wissenschaftlichen Hintergrund kenne, finde ich, du hast es verdient, das Ganze sehenden Auges in Angriff zu nehmen.«
»Dad, du wirst mich doch nicht anlügen, oder?«
»Jessielein.« Er schloss mich in die Arme und drückte mich, und auf einmal wurde ich von einer eiskalten Woge der Angst erfasst. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah. Dad küsste mich auf die Stirn. »Mein armes, kleines nussbraunes Mädchen. Keine Lügen. Nur Fakten, okay?«
»Okay.«
»Fangen wir mit
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