Das Testament der Jessie Lamb: Roman
den künstlichen Gebärmüttern an. Sie wurden entwickelt, bevor es MTS gab, aber jetzt hat die Forschung daran Priorität. Man gibt den Embryo in eine künstliche Gebärmutter, und dort wird er in einer stabilen Umgebung überwacht und versorgt. Das Risiko einer Infektion durch eine menschliche Mutter ist ausgeschlossen – und keine Frau braucht ihr Leben zu opfern.«
»Wurden sie schon getestet?«
»Die Forschung steht knapp vor dem Durchbruch.«
»Warum sucht Mr. Golding dann Freiwillige?«
»Ich hab dir doch gesagt, die Gebärmütter sind noch in der Entwicklung.«
»Dann steht also nicht fest, dass sie jemals funktionieren werden.«
»Man verfolgt verschiedene Optionen, Jessie. Nicht nur die mit den künstlichen Gebärmüttern. Man forscht auch an genetisch veränderten Schafen. Ich persönlich glaube, dass der Durchbruch hier erfolgen wird. Der Uterus der Schafe hat die gleiche Größe wie beim Menschen, und es gibt sehr ermutigende Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass es möglich sein könnte, modifizierten Schafen Embryos zu implantieren.«
»Transgenen Schafen?«, fragte ich. »Die zur Hälfte Menschen sind?«
Er lachte. »Wer hat denn gesagt, sie wären zur Hälfte Menschen?« Baz hatte erzählt, in Wettenhall gäbe es Monster.
»Das habe ich irgendwo gelesen.«
»Das sind ganz normale Schafe mit leicht veränderten Genen. Man kann sie nicht von anderen Schafen unterscheiden. Sie sind genauso wollig und genauso dumm. Und für mich ist es keine Frage, was ich lieber opfern würde, ein Schaf oder ein junges Mädchen.«
»Wäre es nicht peinlich, wenn man seine Mutter beim Elternabend entschuldigen müsste, weil sie ein Schaf ist?«
Dad lachte. Nach einer Weile sagte er: »Ein anderer Blickwinkel, auch wenn ihn in diesem Land niemand zur Kenntnis nehmen will. Man könnte die Embryos auch von gehirngeschädigten, geistig schwer behinderten Frauen austragen lassen.«
»Weshalb sollte jemand, der sich nicht wehren kann …«
»Einverstanden, das ist nicht schön.« Wir schwiegen. »Was du außerdem noch wissen solltest, ist, dass man daran arbeitet, MTS für normale Frauen erträglicher zu machen. Im Moment werden Medikamentencocktails getestet, die das Auftreten von Symptomen hinauszögern sollen. Eines Tages werden die Frauen ihre Kinder austragen können, ohne dass man sie ins Koma versetzen muss.«
Er war ein Teufel, der mich in Versuchung führte.
»Ich finde, du solltest damit warten. Warte ein Jahr, lass den Eierköpfen Zeit, neue Lösungen zu finden.«
Doch ich weiß, je jünger ich bin, desto besser ist es für das Kind. Das weiß jeder. Ich würde ein Jahr meines Lebens gewinnen und dabei die Existenz eines Kindes aufs Spiel setzen. Wir gelangten zum Damm und mussten über die steile Böschung zu dem Weg an der anderen Seite hinunterklettern. Der Schnee war richtig tief. Erst versuchte ich, seitwärts zu gehen, dann rannte ich mit Riesenschritten hinunter und wartete auf dem Weg auf Dad, um ihn aufzufangen. Ich spürte die Schneeklumpen in meinen Stiefeln, die zu schmelzen anfingen und meine Socken durchnässten. Das Wasser des Stausees war schwarz an dieser Seite, tief und dunkel und torfig.
»Warum gefriert das Wasser nicht?«, fragte ich.
»Es ist ständig in Bewegung, weil immer neues Wasser nachfließt.«
»Es wäre schön, wenn man darauf Schlittschuh laufen könnte.«
»Würdest du gern Schlittschuh laufen?«
»Ja.«
»Du könntest Unterricht nehmen. Wir könnten in die Eishalle gehen.«
»Die verschwenden bestimmt tonnenweise Energie für die Kühlung.«
»Du bist ein bisschen willkürlich, Jess. Glaubst du nicht, auch im SeaLife würde man für die Heizung und die Beleuchtung Energie brauchen?«
Daran hatte ich noch nicht gedacht.
»Noch etwas«, sagte er. »Du solltest dir über die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ausgangs Gedanken machen. Über die Überlebenschancen das Kindes.«
»Wie meinst du das?« Allmählich bekam ich kalte Füße.
»Bei den Schwangerschaften vieler Schlafender Schönen treten Komplikationen auf. Entweder es kommt zu einer spontanen Fehlgeburt, oder die MTS -Symptome treten mit unerwarteter Heftigkeit auf, und das Kind wird in Mitleidenschaft gezogen – alles Mögliche kann schiefgehen. Aber die Überlebensrate der Babys steigt, im Moment liegt sie bei fünfzig Prozent. In einem Jahr werden vielleicht schon zwei Drittel überleben. Wäre das nicht allein schon ein Grund, noch zu warten? Auf eine bessere Überlebenschance
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