Das Testament der Jessie Lamb: Roman
organisieren, da sie Mandy misstrauten. Wie er meinte, werde diese Lösung nicht von Dauer sein.
Mir wurde klar, dass beide nicht einmal ansatzweise begriffen hatten, was ich ihnen erzählt hatte. Als ich Mum abends im Schlafzimmer schluchzen hörte, wusste ich, dass ich jetzt unmöglich darüber reden konnte. Auch wenn ich versuchte, ein gesundes Kind zu gebären, während Mandy einfach nur Selbstmord begehen wollte. Ich begriff, dass es Mum schwerfallen würde, sich den Unterschied klarzumachen. Dass Mädchen sich für das Programm meldeten, hatte ihr noch nie gefallen – das sah sie anders als Dad.
Ich bekam ein Schreiben von der Klinik mit dem Termin für das Beratungsgespräch, und ich ging hin wie zu einer Prüfung, voller Angst, die falschen Antworten zu geben. Das Beratungszimmer lag auf der obersten Etage; ein stiller, mit Teppichboden ausgelegter, abgeschiedener Ort mit Fluren und geschlossenen Türen. Hier oben war ich noch nie gewesen. Unter mir lagen die Krankenstationen – und im Keller die Labors, in denen Dad arbeitete.
Die Beraterin war um die dreißig. Sie war sehr ernst und sprach mit ausdrucksloser Stimme, als hätte alles für sie die gleiche Bedeutung. Anfangs lief es gut, denn sie erkundigte sich, ob mich jemand bei meiner Entscheidung beeinflusst oder unter Druck gesetzt habe, was ich natürlich verneinte. Dann aber ging es um das Warum. Warum ich das tun wolle? Und als ich meine Gründe darlegte, fragte sie wieder: »Warum?« Warum ich einen Beitrag zum Überleben der Menschheit leisten wolle? Warum ich wolle, dass die Menschen wieder auf natürliche Weise Kinder zeugten? Ich wurde verlegen, wiederholte das Offensichtliche, und sie bohrte immer weiter: »Ja, aber warum?« Ich überlegte, ob ich irgendwas über Heldenmut und meine Bereitschaft zur Selbstaufopferung schwadronieren sollte, doch das war bestimmt nicht das, was sie hören wollte. »Erzählen Sie mir von Ihren Freunden«, sagte sie geduldig. »Was hat sich in Ihrem Leben geändert, das Sie veranlasst hat, sich für das Programm zu melden?« Also erzählte ich ihr von Sal und dass sie sich FLAME angeschlossen habe; von Lisa, deren Mutter gestorben sei und die mir gesagt habe, es sei eine gute Sache, am Leben zu bleiben.
»Sie sagen, beide hatten in ihrem Leben Schwierigkeiten«, sagte die Beraterin. »Glauben Sie, bei Ihnen ist das anders?«
»Wohl eher nicht.«
»Und glauben Sie, das hat etwas damit zu tun? Dass Sie ihnen dadurch, dass Sie sich melden, ähnlicher werden, mit ihnen gleichziehen?«
»Nein. Das ist eine Art Druck, der sich aufbaut – Männer weinen auf offener Straße, meine Tante Mandy bricht zusammen, auf dem Weg hierher waren Polizeisirenen zu hören, und ständig kommen schlimme Meldungen in den Nachrichten … Ich spüre das alles – ich sauge es in mich auf.« Ich verstummte. Wenn ich etwas Falsches sagte, würde sie mich zurückweisen.
Aber sie bedeutete mir, ich solle fortfahren. »Hören Sie – alles, was Sie mir erzählen, ist vertraulich. Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen dabei zu helfen, sich alles gut zu überlegen.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, mir explodiert der Schädel, und dann würde ich mir am liebsten einen Nagel hineinschlagen …«
»Um Druck abzulassen«, meinte sie leise.
»Ja. Mein Herz schlägt wie verrückt. Und wenn ich daran denke, dass ich mich für das Programm gemeldet habe, und mir vorstelle, wie ich die Injektion bekomme, wie alles von mir abfällt … dann wird mir ganz friedlich zumute.«
»Gibt es keine anderen Möglichkeiten für Sie?«
»Was, zum Beispiel?«
»Sie könnten mit einigen der Not leidenden Menschen, die Sie erwähnt haben, arbeiten – Sie könnten beispielsweise eine Therapeutenausbildung machen und kinderlosen Frauen wie Ihrer Tante helfen …«
»Aber wie kann man ihnen helfen? Niemand kann ihnen geben, was ihnen fehlt.«
»Auch kleine Dinge können hilfreich sein, wie jemanden in den Park zu begleiten, damit er sich die Blumen anschauen kann. Für Ablenkung sorgen.«
»Aber das ertrage ich nicht! Ich ertrage es nicht, klein und langsam und bedeutungslos zu sein. Ich muss etwas tun, das etwas bewirkt …«
»Haben Sie sich schon einmal selbst wehgetan? Haben Sie sich Verletzungen zugefügt?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Aber Sie können nachempfinden, weshalb Menschen so etwas tun?«
Das hier war etwas anderes. Etwas völlig anderes.
»Na schön«, sagte sie sanft. »Es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen.«
»Ich will
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