Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Mittelpunkt. Lisa erwartete mich auf der Hügelkuppe, und dann sausten wir gemeinsam bergab, juchzend und atemlos. Die Felder entfalteten sich vor uns wie ein Teppich.
Schließlich bogen wir auf eine kleinere Straße nach rechts ab, und dann hielt Lisa an einem Tor an. »Da oben ist es.«
Ein Pfad schlängelte sich bergauf und verschwand zwischen kahlen Bäumen. Das Tor war unverschlossen, doch die Angeln waren kaputt. Wir zwängten unsere Räder durch die Lücke und schoben sie in den Wald. Von der Kuppe aus schauten wir auf einen Bach und eine Farm mit mehreren Nebengebäuden hinunter. Die Sonne kam wieder heraus und überschwemmte das Tal mit Licht. Wir sahen einander an und lachten. Dann lehnten wir die Räder an einen Baum und gingen zum Hof hinunter.
Davor lag ein gepflasterter Hof, an drei Seiten von Gebäuden eingefasst – vom Wohnhaus, einer verfallenen Scheune und ein paar Holzschuppen, die nach Ställen aussahen. Vor der Scheune lagen ein paar modrige Strohballen. Lisa hob einen Stein von der Türstufe hoch, darunter lag ein großer, altmodischer Schlüssel. Sie sperrte die Tür auf, und wir traten in die düstere Küche. »Mein Gott«, sagte sie, »das ist perfekt!« An der einen Wand standen ein alter Kochherd und eine große schwarze Anrichte mit Bechern, Tellern und vergilbtem Papier – Rechnungen, Werbesendungen, Zeitungen. Auf dem Tisch standen Weckgläser und Flaschen, daneben Saatgutkataloge, ein Computer und ein Drucker sowie ein Korb voller Wäsche. Beim Herd stand ein Paar rissiger Stiefel, an einem Türhaken hing Ölzeug. Es roch feucht und modrig und ein wenig süßlich, wofür vermutlich eine tote Maus oder ein Vogel verantwortlich war.
»Wo sind die Leute hin?«, fragte ich. In der Spülschüssel lag in einer trüben Wasserlache eine verrostete Bratpfanne.
»Das ist eine traurige Geschichte«, sagte Lisa. »Aber schau mal! Ein richtiger Feuerherd, wie toll ist das denn? Wir brauchen nur ein bisschen Holz zu hacken, und schon können wir heizen, kochen und heißes Wasser machen.« Sie drehte den Wasserhahn auf. Er spritzte kurz, dann schepperten die Rohre, das war alles. »Das Wasser wurde abgestellt«, sagte sie. »Wir besorgen uns Plastiktonnen und fangen damit das Regenwasser vom Dach auf.«
Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, wo vor dem Kamin ein geblümtes Sofa stand. Auf dem Rost lag weiche weiße Asche. In der Ecke stand ein Fernseher, neben dem Sofa lagen ein Taschenrechner, ein Stift und handgeschriebene Listen mit Zahlenkolonnen. Eine offene Tür führte zu einer Rumpelkammer voller gestapelter Kartons und kaputter Möbel. »Was ist hier passiert, Lisa?«
Sie erzählte es mir, als wir nach oben gingen und die Schlafzimmer erkundeten. Die Farm gehörte einem jungen Ehepaar, das sie renovieren wollte. Die Frau war schwanger, dann kam MTS . Der Mann lebte bis Oktober allein in dem Haus, dann brachte er sich um. Die Farm fiel an seine Eltern. Jetzt hatten sie sie mutterlosen Kindern überlassen.
»Sind sie beide hier im Haus gestorben?«
»Woher soll ich das wissen? Ist das alles, was dich interessiert? Siehst du denn nicht, was man Tolles daraus machen kann?«
»Tut mir leid. Doch, seh ich.« Im großen Schlafzimmer war das Federbett zurückgeschlagen, als wäre gerade eben erst jemand aufgestanden. Im anderen Zimmer lehnte eine Trittleiter an der Wand, und darauf stand eine Farbdose mit darauf abgelegtem Pinsel. Eine Wand war taubenblau. Über den Schlafzimmern war ein Speicher. An mehreren Stellen konnte man durch das Dach hindurch den Himmel sehen, auf dem Boden lagen Laub und Federn. »Ich wette, da oben ist ein Nest«, sagte ich, doch wir konnten keins finden.
Wir sahen uns auch die anderen Gebäude an, die alle ziemlich verfallen waren, und Lisa schilderte mir ihre Pläne. Auf dem Bankkonto von Kids’ House lagen Spendengelder. Damit wollte sie Werkzeug und Saatgut kaufen. Sie wollte Feldfrüchte anbauen: Kartoffeln, Zwiebeln, Bohnen, Kohl, Rote Bete, Zuckermais, Sonnenblumen. Sie würden den Garten ordentlich einzäunen müssen, um Rehe und Kaninchen fernzuhalten. Sie würden sich einen Polytunnel kaufen und darin Tomaten, Erdbeeren und Rettich anbauen und außerdem Hühner und Ziegen halten. Sie hatte bereits Bücher über Tierhaltung gelesen und traute sich zu, eine Ziege zu melken und Joghurt und Käse zu machen. Sie wollte auch Pflaumen- und Apfelbäume, Haselnuss-, Himbeer- und Johannisbeersträucher kaufen und jemanden kommen lassen, der sich mit Bienen
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