Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Eltern mein Zimmer würden ausräumen müssen, und da war ich auf einmal froh, dass ich es getan hatte.
Als ich aus dem Laden trat, klingelte mein Handy. Lisa. Sie berichtete von ihren neuesten Plänen; sie wollte noch immer von dem Kids’ House aufs Land ziehen und dort Selbstversorger werden. Über einen Bekannten, der mit jemandem gesprochen hatte, der es an einen Dritten weitergegeben hatte, war ihr ein kleiner Bauernhof für mutterlose Kinder angeboten worden. Er lag in Wales, und sie fragte mich, ob ich ihn mir mit ihr anschauen wolle. »Ich weiß, du hältst das für Realitätsflucht«, sagte sie, »aber du könntest doch mal mitkommen und es dir anschauen, was meinst du?« Dass sie mich von der Teilnahme am Programm abhalten wollte, erwähnte sie nicht, doch ich hörte es aus ihren Worten heraus. Egal. Ich war froh, dass sie mich gefragt hatte, ich war des Alleinseins überdrüssig. Wir verabredeten uns für neun Uhr freitags am Piccadilly, um mit dem Zug nach Wales zu fahren. Sie meinte, ich solle mein Fahrrad mitbringen, denn es sei ein weiter Weg vom Bahnhof zum Hof.
Bis Freitag musste ich noch etwas erledigen – die Besprechung in der Klinik. Dr. Nichol hatte sich per SMS bei mir erkundigt, wie es mir gehe und ob ich einen weiteren Beratungstermin wünsche. Ich hatte mit Nein geantwortet. Jetzt stand die Besprechung an, bei der meines Wissens die endgültige Entscheidung fallen würde.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, mich nicht mit dem Thema zu beschäftigen. Ich würde einfach hingehen und Ja sagen. Ganz am Rande, im peripheren Gesichtsfeld, das man hat, wenn einem jemand die Hand auf die Augen legt, spielte ich mit der Möglichkeit, Nein zu sagen und wieder mein eigenes Leben zu leben. Dann wurde mir klar, dass ich spät dran war und zur Bushaltestelle laufen musste. Das Wetter war umgeschlagen, es war schwül, und als ich in den Bus einstieg, schwitzte ich. Während der Fahrt starrte ich vor mich hin, die Tasche auf den Knien, und kam mir vor wie eine Statue. Als die Krankenschwester mich in ein Wartezimmer führte, in dem ich noch nicht gewesen war, saß dort ein mir unbekanntes Mädchen. Wir sahen einander an, und ich nickte ihr zu; ich glaube, wir hatten beide vergessen, wie man lächelt. Wenigstens war es nicht Rosa. Sie wurde gleich aufgerufen. Ich nahm mein Buch aus der Tasche und starrte die Seite an, damit ich sie nicht ansehen musste, wenn sie zurückkam. Ich wollte sie nicht weinen oder lächeln sehen, je nach Ausgang der Besprechung. Die Zeit verging nur langsam. Als ich endlich aufgerufen wurde, saß Dr. Nichol hinter ihrem Schreibtisch. Sie erhob sich, kam um den Tisch herum, klopfte mir auf die Schulter und geleitete mich zu einem bequemen Sessel. Dann nahm sie mir gegenüber Platz. »Also, Jessie«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen?«
»Ich weiß nicht.«
»Das wundert mich nicht«, sagte sie. »Das ist eine sehr schwerwiegende Entscheidung. Wie stehen Ihre Eltern dazu?«
»Also, ehrlich gesagt glauben sie, sie hätten mich dazu gebracht, noch ein Jahr zu warten.«
»Ah.«
»Dann wäre ich zu alt, nicht wahr?«
Sie nickte. »Mr. Golding nimmt keine Frauen, die älter sind als sechzehneinhalb. Aus der Statistik zu den Schlafenden Schönen geht hervor, dass jeder zusätzliche Monat die Chance einer Lebendgeburt verschlechtert.«
»Meine Eltern wissen das.«
»Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Mutter zu einem Treffen der Mütter für das Leben gehen«, sagte sie. »Die Frauen dort haben ein gutes Unterstützernetzwerk aufgebaut. Sie verstehen den Ablauf, sie helfen sich gegenseitig, das durchzustehen.«
Ich hatte nicht die geringste Lust, das Thema bei Mum noch einmal zur Sprache zu bringen.
»Wie steht es mit Ihnen? Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Also, ich war ein bisschen durcheinander.« Plötzlich dachte ich, sie sieht genau, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich tue. Ich brauche nur aufrichtig zu sein, dann wird es mir gelingen, mich zu retten. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass ich mich retten wollte und dass ich eine hinterhältige Ader habe.
»Konnten Sie gut schlafen?«
»Ich hatte ein paar schlaflose Nächte.« Ich lachte, damit sie nicht den Eindruck bekam, ich wollte jammern.
»Das freut mich«, sagte sie. »Es wäre sehr bedenklich, wenn Sie mit einer solchen Entscheidung ruhig und gefasst umgingen. Sie wissen ja, wir wollen keine Mädchen, die sich irgendwelche Illusionen machen. Sie sind im Begriff, eine folgenschwere
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