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Das Testament des Satans

Das Testament des Satans

Titel: Das Testament des Satans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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verschwunden.« Ich muss ihn wohl ziemlich bedeppert angesehen haben, denn er fügt an: »Aus dem Käfig.« Sein Kopf ruckt in Richtung Ossuarium. »Die anderen sind eben zurückgekehrt. Sie haben Raymond gefunden. Er ist tot.«
    Erschüttert folge ich Robin durch das Beinhaus. Die nassen Fußspuren scheint er nicht zu bemerken. Wir durchqueren den Hof und betreten die Krypta Saint-Martin, wo die anderen in betretenem Schweigen einen Leichnam anstarren.
    Raymond liegt unterhalb des Gobelins von Saint-Michel an der Seitenwand vor der Altarapsis der Kapelle: Der Erzengel als Seelenwäger des Jüngsten Gerichts. Im Licht der Kerzen schimmert und funkelt die golddurchwirkte Tapisserie.
    Jourdain kniet neben Raymond, presst sein tränennasses Gesicht in dessen Skapulier und weint. Er scheint Raymond aufrichtig geliebt zu haben.
    Lucien neben ihm betet leise, um Jourdain zu trösten: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil – wen soll ich fürchten?«
    Die anderen, wie Abelard, der bleich wie ein Totenschädel ist, sind still. Erstarrt vor Angst. Niemand fummelt Schiefertäfelchen und Griffel hervor, um das blutige Anagramm zu Raymonds Füßen zu entschlüsseln.
    Und auch ich kann mir denken, was dort steht.
    Yvain nickt mir erschüttert zu, als ich neben ihm stehen bleibe. »Père Yann.« Der Prior nickt in Richtung des Bibliothekars. »Frère Abelard hat ihn gefunden. Er ist fassungslos.«
    »Kann ich mir vorstellen.«
    »Frère Raymond war sein Adlatus. Habt Ihr als Subprior Einwände, wenn ich Frère Jourdain als Nachfolger vorschlage?«
    »Nein.« Ich blicke mich um. »Wo ist Père Corentin?«
    Yvain sieht mich von der Seite an, als habe er nicht verstanden, antwortet aber nicht. Sein Entsetzen ist nicht geheuchelt. Er wusste nichts von diesem Mord. »Was haltet Ihr davon?«
    Raymonds Leichnam: dieselbe Haltung wie Conan, die Arme ausgebreitet, die Beine geschlossen, wie ein Gekreuzigter. Mein Blick huscht zum Gobelin über ihm.
    Der Erzengel im weißen Gewand und prächtig schillernden Gefieder mit der Seelenwaage am Tag des Jüngsten Gerichts. Mit ernster Miene wiegt Saint-Michel die guten und die bösen Taten gegeneinander auf und führt die Seelen der Verstorbenen, die wie bleiche Skelette aussehen, zum Gericht Gottes. Eine herrliche Tapisserie, die ich oft während meiner Messen in dieser Kapelle betrachtet habe – ich kenne jeden Engel, jedes vor Angst schlotternde Skelett bis zum letzten Nadelstich.
    »Das dritte Siegel der Apokalypse«, murmele ich und zitiere die Offenbarung des Johannes. »›Und ich sah, als das Lamm das dritte von den sieben Siegeln öffnete, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in seiner Hand.‹«
    Yvain nickt. »Genau. Die Waage des Erzengels. Das dritte Siegel«, wispert er. »Die Progression des Todes ist in Gang gekommen. Seht sie Euch an, Père Yann: Das Grauen hat sie gepackt.« Seine Stimme bebt vor Angst. »Denn wenn Frère Conan das erste Siegel ist und Frère Raymond das dritte – wer ist dann das zweite Siegel?« Mit einer Geste deutet er in die Runde. »Zweiundzwanzig Fratres – es fehlt doch niemand!«
    Ich sehe ihm fest in die Augen. »Wo ist Père Corentin?«
    Und wo, zur Hölle, ist Alessandra?

Das vierte Siegel

    Und ich sah, als das Lamm das vierte von den
sieben Siegeln öffnete, ein fahles Pferd.
Und der darauf saß, dessen Name war:
Der Tod.
    Und die Hölle folgte ihm nach.
    Apokalypse des Johannes

Alessandra
Kapitel 55
    Im Gästesaal
Kurz vor vier Uhr morgens
    Sobald ich mir das Hemd in die Hose gestopft habe, ziehe ich die Karaffe mit dem Calvados heran und nehme einen kräftigen Schluck. Die Wärme, die sich in mir ausbreitet, tut mir gut.
    Und weiter geht’s. In der Chapelle Sainte-Madeleine knie ich vor dem Altar nieder und ziehe das Liber Secretorum Diaboli hinter dem Altartuch hervor. Ich hatte den Kodex dort versteckt, bevor ich mich auf die Suche nach Vittorino und seinem Notizbuch gemacht habe. Jourdain hat ihn nicht gefunden, als er vorhin mein Gepäck durchwühlte und wegen Eoghan Leuchtzeichen zur Tombelaine schickte. Woher wissen die Engländer von Eoghan? War er auf der Tombelaine?
    Mit dem Folianten unter dem Arm gehe ich in den Gästesaal zurück. Jourdains Sturmlaterne steht noch vor dem Fenster.
    Soll ich? Ich zögere. Kann ich Yannic vertrauen? Wo steckt er überhaupt?
    Also gut. Ich nehme die Sturmlaterne, gehe damit zum nordöstlichen Fenster des Saals und entzünde die Kerze mit dem Feuerzeug an meinem Gürtel. Der

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