Das Testament des Satans
wische ich mir die Tränen ab und taste noch einmal bis zur Schulter in das Grab. Ich fühle das kratzige Moos, das weiche Laub, das der Sturm in den Spalt gewirbelt hat, die zerbrochenen Knochen, das vertrocknete, verweste Fleisch, das Haar auf dem zertrümmerten Schädel und – ganz unten in der Felsnische – ein Bündel Stoff, seine Kleidung. Ich zerre daran. Knochensplitter knirschen über Granit. Schließlich geben Vittorinos ineinander verkeilte Knochen nach. Ich ziehe die Robe aus dem Spalt und breite sie neben mir aus, um die Taschen zu durchsuchen.
Kein Notizbuch.
Entweder hat es der Mörder …
… oder …
Na los, Sandra, trau dich, es auszusprechen, auch wenn’s wehtut!
… oder Yannic hat es.
Ich knirsche mit den Zähnen. Und ich habe diesem Mistkerl vertraut! Als wüsste ich es nicht besser, als wäre ich noch nie verraten worden und noch nie mit dem Tod bedroht! Ich balle meine Fäuste. Ich dulde keinen Verrat. Der Letzte, der mich verraten hat – Fra Santino de Angelis, der dominikanische Inquisitior, der mich durch seine perfiden Intrigen auf den Scheiterhaufen gebracht hat –, ist tot.
Yannic muss das Büchlein haben – Vittorino muss es ihm gegeben haben, bevor er starb. Mein Freund hätte das Geheimnis um das Testament des Satans niemals mit ins Grab genommen, nicht er, der Hüter der schrecklichsten Geheimnisse der unheiligen römischen Kirche! Vittorino muss sich Yannic anvertraut haben!
Ich bin maßlos enttäuscht von Yannic, und ich zittere vor Wut. Wie konnte ich ihm bloß glauben!
Trotzig wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, dann schiebe ich Vittorinos Arm zurück in den Felsspalt. Jetzt kann ich nichts mehr für ihn tun. Aber wenn das alles hier vorbei ist, werde ich seine sterblichen Überreste nach Rom mitnehmen, damit er dort mit Tommasos Segen beigesetzt werden kann.
Als ich sein Gewand wie ein Leichentuch über ihm ausbreiten will, sehe ich etwas Dunkles in einem Spalt der Nische hängen. Eine Fledermaus, denke ich zuerst. Aber nein, die hätte ich doch aufgescheucht.
Noch einmal greife ich in die Felsspalte. Es ist ein Schiefertäfelchen, wie es die Mönche am Gürtel tragen. Auf den nächsten Blitz muss ich nicht lange warten.
ICH HABE DICH ERWARTET
Dieselbe Schrift wie die Drohung auf Conans Schreibpult:
DU WIRST STERBEN
Alle Dämonen der Hölle beschwöre ich auf diesen perfiden Mistkerl herab, während ich Vittorinos sterbliche Überreste in den Stoff hülle. Anschließend klettere ich hinunter zum Felsenstrand, wo das Wasser mittlerweile erheblich gestiegen ist, wasche mir die Hände und blicke zum Himmel empor.
Ich muss wieder hinauf in die Abtei, und zwar schnell. Es ist schon nach zwei, und die Zeit zerrinnt mir zwischen den Fingern. Ich bin nicht zum Stundengebet erschienen.
Was, wenn sie nach mir suchen?
Der Hüter des Erzengels
Intermezzo 5
Im Kreuzgang
Einige Minuten nach zwei Uhr nachts
Im Kreuzgang beugt sich der Hüter über das Lavatorium im Schatten des Säulengangs und lässt kaltes Wasser über seine blutüberströmten Hände rinnen. Anschließend wäscht er sich das Gesicht, nestelt die verklebte Gaze wieder über seine Wunden und setzt seine Ledermaske auf.
Er muss sich beeilen, ihm bleibt nicht viel Zeit. Noch vor der Vigil in der Krypta neben dem Scriptorium muss er das verschwundene Liber Secretorum Diaboli finden und zurück ins Dämonenloch bringen, wo es zusammen mit den Skizzen wieder eingemauert werden muss.
Aber wo ist die Bible du Diable? Hat Alessandra sie gelesen? Gott bewahre! Dann weiß sie, wo das Vermächtnis des Satans verborgen ist.
Und die Blutskizzen von den Opfern? Hat sie darin geblättert? Wenn sie die Zeichen richtig deutet … Ma Doue!
Wo steckt sie überhaupt?
Unvermittelt überkommt ihn ein Gefühl der Angst und der Verzweiflung. Er glaubt, sich übergeben zu müssen, und reißt sich die Maske herunter, um tief durchzuatmen. Trotz aller Vorbereitungen, trotz endloser Gespräche mit Yvain und Abelard verläuft diese Nacht alles andere als geplant.
Alessandra ist gerissen, denkt er. Forsch und unberechenbar.
Wir haben sie unterschätzt. Aber das wird sich ändern.
Sie ist allein. Sie ist unbewaffnet. Sie kann nicht entkommen.
Der Hüter zieht ihr Notizbuch aus seinem Habit und schlägt die Seiten auf, die er vorhin in ihrer Handschrift verfasst hat. Ihr Ruf als Satans Tochter, der an ihr klebt wie Pech und Schwefel, wird ihr zum Verhängnis werden.
Und da ist ja noch die Blutschrift neben Conans
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