Das Testament des Satans
vorgeht.
Er steckt in einem furchtbaren Gewissenskonflikt – eine erste Vorahnung des inneren Infernos, von dem Conan sprach. Yannic steht vor der Entscheidung, wen von uns er opfern muss: Conan, den er als Selbstmörder ins Höllenfeuer verdammen muss, um mich, seine angebliche Mörderin, vor dem Todesurteil zu bewahren. Oder mich, um Conans unsterbliche Seele vor der ewigen Verdammnis zu retten. Wie auch immer er sich entscheidet – für Conan oder für mich: Er weiß, es ist ein Satanspakt. Und den kann er nicht gewinnen.
Ich will ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen, doch er wendet sich ab und geht zwei Schritte weiter. »Bitte nicht.«
Was hat er denn nun schon wieder? Ich lasse ihn in Ruhe nachdenken und blättere weiter durch Vittorinos Notizbuch. Er hatte das Buch der Geheimnisse des Satans in ihrem Versteck im Archiv gefunden, nachdem er die Bodenplatte mit einem gusseisernen Kerzenleuchter zertrümmert hatte. Er hatte sie gelesen. Und das Bilderrätsel entschlüsselt.
Verwirrt starre ich auf die Seite. Welches Bilderrätsel?
Ich wusste, dass ich etwas übersehen habe!
Weiter! Doch ab jetzt bestehen die Aufzeichnungen nur noch aus unzusammenhängenden Sätzen und Worten, die keinen Sinn zu ergeben scheinen. Die Schrift wird immer unleserlicher, zittriger, erregter. Vittorinos geistige Gesundheit scheint in Gefahr gewesen zu sein, sobald er den Schrein geöffnet hatte.
»Komm jetzt, wir müssen weiter! Sie können uns jeden Moment finden«, drängt Yannic.
Offenbar hat er sich entschlossen, ein Unrecht hinzunehmen, um ein noch schlimmeres zu verhindern. Aber wie hat er sich entschieden? Für Conan oder für mich?
»Nein, warte!«
»Alessandra, wir müssen jetzt verschwin …«
»Einen Augenblick noch!«
Kein Hinweis darauf, wo Vittorino die Lade gefunden hatte. Nur rätselhafte Anmerkungen zu apokalyptischen Prophezeiungen Satans über Harmagedon, dem Ort der Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse, die seinen kryptischen Worten zufolge auf dem Mont stattfinden soll.
Und auf der letzten Seite sein Abgesang: ›So etwas Schönes und gleichzeitig Schreckliches habe ich noch nie gesehen. Es ist eines Erzengels würdig, der sein wollte wie Gott.‹ Die Worte hat Vittorino mehrmals mit dem Silberstift eingekreist. Dabei hat er so stark aufgedrückt, dass das Pergament teilweise eingerissen ist. Und dann:
›Gott sei uns allen gnädig! Denn wenn …‹
Das war’s. Denn wenn … was?
Offenbar wurde Vittorino bei seinen Aufzeichnungen unterbrochen. Und anschließend ermordet.
»Und?« Yannic blickt mir über die Schulter.
»Nichts.« Ich schüttele den Kopf. »Er war so verwirrt wie Conan. Kein Wort, wo das Testament verborgen ist.«
»Aber Conan hat es doch gefunden.«
Ich atme tief durch. »Hast du ihm das Notizbuch gegeben?«
»Ich habe ihm nur ein paar Zeilen gezeigt.«
»Weißt du noch, welche?«
Yannic nimmt mir das Büchlein aus der Hand und blättert darin. Dann reicht er es mir zurück und deutet auf eine Seite. »Das habe ich abgeschrieben.« Er zeigt auf ein Wort. »Siehst du? Kreis mit Punkt, Kreis, Kreuz, Kreis, Strich, Kreis. Das sah für mich aus wie Satana – das italienische Wort für Satan.«
»An der Sorbonne, sagtest du?«, ziehe ich ihn auf.
Er ignoriert mein Gefrotzel. »Welche Schrift ist das? Ich habe sie noch nie gesehen.«
»Das ist Tifinagh. Die Schrift der Tuareg. Mein Freund Tayeb, der jetzt als Professor an der Sankoré-Universität von Timbuktu lehrt, hat sie mir beigebracht. Ich benutze sie seit zehn Jahren.«
»Seit du mit Tayeb, der jahrelang in deinem Palazzo in Florenz gelebt hat, nach Timbuktu reisen wolltest, um die verschollene Bibliothek von Alexandria zu suchen.«
»Du weißt davon?«
»Seine Heiligkeit hat mir davon erzählt. Er ist begeistert von der Idee, die Bibliotheca Alexandrina im Vatikan wiederzueröffnen.«
»Vittorino, sein Bibliothekar, war genauso begeistert von dieser Schrift. Als Code ist sie nicht zu entschlüsseln. Und weißt du, warum? Tifinagh hat fünfundfünfzig Zeichenvariationen, doppelt so viele wie das lateinische Alphabet. Darunter etliche, die es im Italienischen und Französischen von der Aussprache her nicht gibt. Keine Vokale. Keine Worttrennungen. Die Wortrichtung ist nicht festgelegt, je nach Verfasser kann sie von links nach rechts, von rechts nach links oder von oben nach unten gelesen werden. Vittorino und ich schreiben Tifinagh jedoch mit Vokalen, weil es für uns leichter zu lesen ist. Selbst
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