Das Teufelslabyrinth
dieser gefesselten Frau zu kommen.
Pater Sebastian betätigte die Fernbedienung. Das nächste Bild war ein Ölgemälde, sehr lebendig gemalt, und zeigte einen Mann, der in einem Hafen an einen Pfeiler gefesselt war, hinter ihm die graue See, der Mund des Mannes aufgerissen zu einem Angstschrei, wissend, dass er in der anrollenden Flut ertrinken würde.
Ryan senkte den Blick auf das leere Heft vor ihm auf dem Tisch. Beim Frühstück hatte er gehört, dass »Katholische Geschichte« das beliebteste Fach an der Schule sei, seit Pater Sebastian es lehrte, und jetzt wusste er auch, warum. Die Bilder von der Inquisition, die er gerade gesehen
hatte, hatten sich zusammen mit Pater Sebastians begleitenden Worten so tief in sein Gedächtnis gebrannt, dass jegliche Notizen überflüssig waren.
»Die Historiker haben behauptet, dass es bei der Inquisition um die Verfolgung von Juden und Muslimen ging«, referierte Pater Sebastian. »Aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Die Juden und Muslime waren bereits von der säkularen spanischen Regierung ins Exil getrieben worden. Was die Inquisition notwendig machte, war die Tatsache, dass nicht alle von ihnen geflohen waren. Manche waren geblieben und gaben vor, zum Christentum übergetreten zu sein.« Pater Sebastian warf ein anderes Dia auf die Leinwand. Jetzt sah Ryan die sehr realistische Darstellung eines Mannes, der einen hohen roten, mit einem kunstvoll gestickten Kreuz verzierten Hut trug und auf einer Art Thron saß und zusah, wie ein Henker einem Bauern mit dem Schwert den Kopf abschlug.
Ryan schnürte es beim Anblick des sterbenden Mannes die Kehle zu.
»Der Sinn der Inquisition war nicht die Verfolgung von Juden und Muslimen, sondern die Ausmerzung und Vertreibung jener Menschen, die es mit einem Mal bequem fanden, katholisch zu werden. Ziel der Inquisition waren diese Heuchler, die sich zu unserem Glauben bekannten, um ihre weltlichen Güter zu schützen und zu mehren.« Hier machte Pater Sebastian eine vielsagende Pause, ließ den Blick durch das kleine Klassenzimmer schweifen und blendete das letzte Bild aus. »Fragen?«
Zu seiner eigenen Verwunderung hob Ryan die Hand, um sich zu melden.
»Ryan?«
»I-ich habe mich nur ge-gefragt …«, stotterte er.
Pater Sebastian schnitt ihm mit einer barschen Handbewegung das Wort ab. »Wir sind hier an der St. Isaac’s«, sagte er mit einem beinahe reuevollen Lächeln, »und nicht an einer öffentlichen Schule. Hier stehen wir auf, wenn wir etwas zu sagen haben.«
Ryan stieg die Schamröte ins Gesicht. Er wusste nicht einmal, wie er seine Frage formulieren sollte, stand aber auf und räusperte sich, ehe er erklärte: »Ich habe mich nur gefragt, wie die Leute so genau wissen konnten, ob eine Person bezüglich ihrer Konvertierung log oder nicht? Ich meine, Menschen gestehen doch alles Mögliche, wenn sie nur genug gefoltert werden, oder?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Pater Sebastian, während Ryan sich wieder hinsetzte. »Und das haben auch viele der Inquisitoren schnell begriffen. Aber wir sprechen hier nicht über die Effizienz dieser Methoden; nur über die Reinheit der Motivation.«
Eine andere Hand reckte sich in die Höhe. Pater Sebastian nickte einem dicken, rothaarigen Jungen zu. »Sam?«
Der Junge stand auf. »Aber im Grunde spielte die Motivation doch gar keine so große Rolle, oder? Hat die Inquisition am Ende die Muslime und Juden nicht glauben gemacht, dass die Christen darauf aus waren, sie auszurotten? Ist das nicht einer der Gründe, warum sie das immer noch glauben?«
Pater Sebastian nickte. »Absolut richtig. Es ist unglücklicherweise tatsächlich so, dass die Kirche die Nachwirkungen der Inquisition immer noch zu spüren bekommt, und das noch so viele Jahre nach deren Ende. Und schlimmer noch ist, dass die weltlichen Historiker heute den wahren Sinn und Zweck der Inquisition vergessen zu haben scheinen und allen religiös motivierten
Taten meist zu Unrecht die dunkelsten Motive unterstellen.« Als die Klingel das Ende der Unterrichtsstunde ankündigte, trat Pater Sebastian hinter das Lehrerpult. »Lest im Buch die Seiten hundertsiebenundvierzig bis hundertsechsundsiebzig und vergesst nicht den Test am Freitag.«
Ryan starrte den Priester fassungslos an. Ein Test am Freitag? Selbst wenn er bis dahin das ganze Buch durchlesen könnte - was völlig illusorisch war -, wäre er immer noch nicht gerüstet für einen Test. Das war wirklich nicht fair - er hatte doch erst gestern in dieser
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