Das Teufelslabyrinth
Klasse angefangen. Dann fielen ihm Pater Sebastians Worte über die Historiker wieder ein, die der Inquisition »zu Unrecht« die dunkelsten Motive unterstellten, und plötzlich schöpfte er wieder ein wenig Hoffnung. Er klappte sein Heft zu, wartete, bis die meisten Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten, und ging dann nach vorn zu Pater Sebastian, der gerade dabei war, den Diaprojektor zu verstauen.
»Pater Sebastian?«
Der Priester sah hoch, und unvermittelt erinnerte sich Ryan an den Abend, als Pater Sebastian ihn im Krankenhaus besucht hatte. Auch jetzt wieder lag eine Freundlichkeit im Blick dieses Priesters, die er nur von einer anderen Person kannte.
Seinem Vater.
»Ja, Ryan«, sagte Pater Sebastian. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich … na ja, ich wollte nur fragen, ob ich den Test am Freitag auch mitschreiben muss? Ich meine, ich habe das Buch ja noch nicht einmal aufgeschlagen.«
Der Priester schien kurz nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. »Alle schreiben mit, Ryan. Wenn du
fleißig lernst, wirst du das Pensum schon schaffen. Der Test wird nicht allzu knifflig werden.« Der Priester warf einen raschen Blick durchs Klassenzimmer, dann lächelte er plötzlich. »Warte, ich hab da eine Idee.« Bevor Ryan etwas darauf erwidern konnte, hob der Priester die Stimme leicht an und rief: »Melody?«
Ein hübsches, blondes Mädchen sah von der Büchertasche hoch, die es gerade packte, und Pater Sebastian winkte es zu sich. Das Mädchen schaute sich um, ob wirklich es gemeint war, dann nahm es die Büchertasche unter den Arm und ging nach vorn zum Pult.
»Melody Hunt, das hier ist Ryan McIntyre. Er ist ein Umsteiger und hat heute seinen ersten Schultag bei uns. Wie wäre es, wenn du ihm ein bisschen Nachhilfe gibst für den Test am Freitag und ihn danach vielleicht noch eine Woche oder zwei unter deine Fittiche nimmst, bis er so weit auf dem Laufenden ist? Machst du das, ja?«, fragte er sie und wandte sich wieder an Ryan. »Melody ist eine fanatische Notizenschreiberin. Ich habe das Gefühl, sie weiß mehr über diese Zeit als der Typ, der das Schulbuch hier geschrieben hat.«
Melody errötete ein wenig und lächelte Ryan etwas unsicher an. »Ich werde es versuchen.«
»Mehr kann niemand von uns tun«, schloss Pater Sebastian zufrieden und wandte sich wieder dem Projektor zu.
Sobald sie das Klassenzimmer verlassen hatte, verschwand das Lächeln aus Melodys Gesicht, und sie schüttelte sich. »Diese Bilder waren einfach grausig«, sagte sie. »Warum hat er sie uns überhaupt zeigen müssen?«
Ryan hörte ihr kaum zu. Seine Aufmerksamkeit war völlig von den kleinen Perlenohrsteckern und ihrem hellrosa Lipgloss in Anspruch genommen, durch die sich
Melody so deutlich von all den anderen Mädchen, die er hier bisher gesehen hatte, abhob. Es war nicht leicht, anders als die anderen auszusehen, wenn alle eine Schuluniform trugen, aber Melody hatte es geschafft. Plötzlich merkte Ryan, dass er Melody anstarrte und sie das natürlich auch merkte, und versuchte krampfhaft sich daran zu erinnern, was sie gerade zu ihm gesagt hatte. »Ja, die waren echt krass«, pflichtete er ihr bei und spürte, wie er rot wurde. »Solche Bilder hätten die uns an einer staatlichen Schule nie gezeigt.«
»Du Glückspilz«, seufzte Melody. »Ich hocke hier schon seit der neunten Klasse. Dabei sind meine Eltern nicht mal sehr fromm. Sie glauben nur, dass es hier sicherer für mich ist als an einer staatlichen Schule. Gehen wir essen?«
Als Melody genau in die entgegengesetzte Richtung lief, die Ryan eingeschlagen hätte, heftete er sich an ihre Fersen. »Was war eigentlich mit diesem Kip? Kip Adamson?«
Melody blieb abrupt stehen und schaute Ryan an. »Was weißt du über ihn?«
»Nicht viel. Und obwohl jeder in meinem Schlaftrakt über ihn spricht, weiß niemand genau, was passiert ist. Ich wohne übrigens in seinem Zimmer.«
Melody wurde blass. »Ich glaube, das könnte ich nicht«, flüsterte sie. »Sag mal, hast du da überhaupt schlafen können?«
»Kaum«, gab Ryan zu. »Und, hast du ihn gekannt?«
Melody ging weiter den Flur entlang. »Nicht wirklich«, begann sie. »Ich meine, ich glaubte, ihn zu kennen, bis er von einem Tag auf den anderen anfing, so komisch zu werden. Irgendwie hat er sich in eine verlorene Seele verwandelt, wenn du weißt, was ich meine.«
Ryan nickte, obwohl er nicht sicher war, ob er wusste, was sie meinte, und lief weiter neben ihr her. »Was ist mit ihm passiert?«
»Ich
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