Das Teufelslabyrinth
verspürte das überwältigende Bedürfnis, von ihrer Bank aufzuspringen und durch die Tür zu preschen, um die frische Luft draußen zu atmen, aber Schwester Mary David stand Wache und schien nichts anderes im Sinn zu haben, als dafür zu sorgen, dass Sofia zur Beerdigung blieb.
Als kurz darauf Pater Laughlin auf der Kanzel über Kips blumengeschmücktem Sarg stand und mit seiner Predigt begann, senkte Sofia wie alle anderen den Kopf, doch anstatt für Kips Seele zu beten, betete sie dafür, den Trauergottesdienst durchzustehen, ohne sich erbrechen zu müssen oder in Ohnmacht zu fallen.
Oder beides.
Melody Hunt saß zwischen Clay Matthews und Ryan McIntyre in der vierten Reihe. Darren Bender saß in derselben Bankreihe, aber näher beim Gang und hielt einen Platz für Sofia frei, damit sie neben ihm sitzen konnte, falls sie noch auftauchte.
Als leise die Orgel einsetzte, beugte sich Melody an Ryan vorbei und zupfte Darren am Hemdärmel. »Warum ist Sofia nicht hier? Ist beim Mittagessen was passiert, was du uns nicht erzählen willst?«
Darren schüttelte den Kopf und zuckte hilflos mit den Schultern. »Du hast doch gesehen, was passiert ist, verdammt nochmal«, flüsterte er ein bisschen zu laut, was
ihm einen finsteren Blick aus der hinteren Bankreihe einbrachte. »Sie ist einfach ausgeflippt. Ich verstehe nicht, was da vor sich geht - ich konnte ja gar nicht mit ihr reden!«
Melody blieb ganz ruhig auf ihrem Platz sitzen und suchte unauffällig die Sitzreihen nach Sofia ab. Kips Eltern saßen neben Pater Sebastian in der ersten Reihe, gemeinsam mit ein paar älteren Leuten, wahrscheinlich Kips Großeltern, wie Melody vermutete. Ansonsten kannte sie praktisch jeden, der mit ihr in der überfüllten Kirche saß. Nur von Sofia war weit und breit nichts zu sehen.
Zum Schluss drehte sie sich doch ganz auf ihrem Platz um und suchte in den hinteren Bankreihen nach Sofia - und da saß sie. Aschfahl im Gesicht, die Arme fest vor der Brust verschränkt. »Da ist sie ja«, wisperte sie laut genug, dass jeder sie hören konnte.
Die drei Jungs verdrehten beinahe gleichzeitig die Köpfe. »Wo?«
»In der hintersten Reihe neben der Tür.« Sie knuffte Ryan in die Seite. »Lass mich raus. Ich werde mal mit ihr reden.«
Ryan hielt sie am Arm zurück. »Du kannst jetzt nicht mit ihr reden - die Messe fängt an!«
Widerwillig sah Melody wieder nach vorn und schob ihre Hand in Ryans Hand.
Ryan drückte sie kurz und flüsterte dann, mit Blick auf den Sarg: »Die letzte Beerdigung, auf der ich war, war die meines Vaters.«
Melody überlegte fieberhaft, was man in so einer Situation sagte, und als ihr nichts einfiel, begnügte sie sich damit, seine Hand eine Spur fester zu drücken. Und als hätte er verstanden, was sie damit sagen wollte, erwiderte Ryan ihren Händedruck.
»Ist schon okay«, erwiderte Ryan sehr viel überzeugter, als es der Wahrheit entsprach. »Das ist jetzt zwei Jahre her.«
Und während Melody abermals nach einer tröstenden Erwiderung suchte, hob Pater Laughlin zu einem Loblied an, woraufhin sich die gesamte Gemeinde erhob.
Alle, bis auf eine.
Sofia Capelli kauerte auf ihrem Platz in der letzten Bankreihe und schluckte krampfhaft gegen den Brechreiz an.
Im Verlauf des Trauergottesdienstes ließ ihre Übelkeit allmählich nach, doch nun spürte sie ein seltsames Vibrieren. Es schien aus dem Boden unter ihren Füßen zu kommen, ihre Schuhsohlen zu durchdringen und in ihre Knochen zu fahren.
Was war das? Sie schaute sich um, aber außer ihr schien das niemand zu merken.
Sie beugte sich vor und umfasste die Rückenlehne der vorderen Sitzreihe.
Auch diese vibrierte.
War das ein Erdbeben?
Nein, es fühlte sich nicht an wie ein Erdbeben. Es fühlte sich vielmehr an wie eine Art Energie, die durch ihre Füße - und jetzt auch durch ihre Finger - floss und ihren ganzen Körper innerlich zum Summen brachte. Aber was konnte das sein? Und warum passierte das den anderen nicht auch? Doch als sie sich noch einmal umblickte, erkannte sie, dass jeder hier in der Kapelle so andächtig den Worten von Pater Laughlin zu lauschen schien, dass Sofia dachte, es könnte eine Bombe explodieren, und niemand würde es hören.
Plötzlich erhoben sich die Leute in der Bankreihe vor ihr, und Sofia dachte erleichtert: Jetzt spüren sie es auch! Aber nein - sie gingen nur vor zum Altar, um an Kips offenen Sarg zu treten und ihm die letzte Ehre zu erweisen, ehe sie langsam den Gang entlang aus der Kapelle
Weitere Kostenlose Bücher