Das Teufelslabyrinth
schritten.
Für Sofia kam das überhaupt nicht infrage - das Letzte, was sie jetzt wollte, war, eine Leiche anzuschauen.
Das Summen in ihr wurde lauter, und eine Sekunde lang verschwamm alles vor ihren Augen, und die Kapelle erschien ihr wie von einem roten Licht erleuchtet.
Einem blutroten Licht.
Wie erstarrt saß Sofia auf ihrem Platz, während die Intensität und die Kraft dieses Summens immer stärker wurden. Sie machte die Augen zu, um den roten Schein auszusperren, doch ohne das Licht, das sie ablenkte, war das Summen noch lauter.
Lauter, aber irgendwie auch tröstend.
Es breitete sich in ihrer Brust aus, so als könnte es ihren Herzschlag ersetzen. Und nicht nur ihren Herzschlag, sondern auch ihren Atem.
Es war beinahe so, als könnte dieses Summen ihr all die Energie verleihen, die sie jemals benötigen würde. Sie behielt die Augen geschlossen und ließ sich von dieser Kraft erfüllen, die sie noch nie so gespürt hatte.
Und als sie die Augen wieder öffnete, war sie allein in der Kapelle.
War sie eingeschlafen? Wie war es möglich, dass alle anderen die Kirche verlassen hatten, ohne dass sie es bemerkte? Aber das war jetzt einerlei. Sie war allein und konnte endlich gehen. Nein, konnte sie nicht, denn kaum
hatte sie sich erhoben, wurde die Vibration stärker und das Summen intensiver.
Anstatt durch die Tür nach draußen zu gehen, spürte Sofia, dass etwas ihre Schritte nach vorne richtete.
Hin zum Altar.
Ohne nachzudenken schritt sie schweigend den Gang entlang, ohne zu zaudern oder zu zögern, bis sie vor Kip Adamsons Sarg stand.
Die Vibration, dieses Summen, diese pure Energie umkreisten sie, hüllten sie ein, und als sie hinab in den offenen Sarg blickte, da wusste sie es.
Das war die Ursache.
Kip Adamsons sterbliche Hülle.
Sofia betrachtete sein Gesicht, das so kunstvoll geschminkt war, dass es aussah, als schliefe er und jede kleinste Berührung könnte ihn wecken.
Jede Berührung …
Das Vibrieren wurde stärker, bis jeder Nerv in ihrem Körper prickelte. Jetzt glaubte sie, einzelne Töne in diesem Summen unterscheiden zu können, und dann hörte sie eine Stimme heraus.
Eine menschliche Stimme.
Kip Adamsons Stimme?
»Was?«, wisperte sie kaum hörbar. »Was ist denn?«
Ihre Hand bewegte sich wie aus eigenem Antrieb nach unten und berührte die von Kip, wobei sie darauf achtete, nicht mit dem Rosenkranz in Kontakt zu kommen, der um seine Finger geschlungen war.
Dabei floss etwas durch ihre Finger - etwas Dunkles, Gefährliches - und weiter durch ihren Arm bis hinein in ihre Brust.
Etwas von Kip.
Etwas, das tief in seinem Inneren geschlummert hatte.
Und sich jetzt in ihrem Inneren einnistete.
Und gleich darauf, erfüllt von dieser seltsamen, neuen Kraft, die sie durchströmte, drehte sich Sofia um, um die Kapelle zu verlassen.
Und da standen Melody Hunt, Darren Bender und Ryan McIntyre in der offenen Tür und schauten sie an.
Sofia konzentrierte sich auf ihre Gesichtsmuskeln, zwang diese zu einem Lächeln und ging durch den Mittelgang auf sie zu.
Die Sonne blendete Ryan, als er aus der Kapelle in den späten Nachmittag hinaustrat, doch trotz des grellen Lichts sah er seine Mutter vor der Kapelle stehen.
Und nicht nur seine Mutter. Tom Kelly war auch dabei; er unterhielt sich gerade mit Pater Sebastian.
Was machten sie hier? Waren sie etwa eigens wegen des Begräbnisses gekommen?
Und warum hakte sich seine Mutter bei Tom Kelly unter, genau wie früher bei seinem Vater? Als sie Ryan dann entdeckte, zog sie ihre Hand unter Toms Arm hervor, um ihm zuzuwinken. Eine Spur zu schnell, wie Ryan fand, fast als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Aber weswegen? Weil sie Tom Kelly mitgebracht hatte? Oder sich bei ihm einhakte wie früher bei seinem Vater? Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre auf sein Zimmer gegangen, so aber steuerte er auf sie zu. »Da ist meine Mutter«, sagte er zu Melody. »Und ihr neuer Freund, ein guter Kumpel von Pater Sebastian.«
»Du machst wohl Witze«, flüsterte Melody, mit Ryan Schritt haltend. »Glaub bloß nicht, dass dir das irgendwas nützt!«
»Weiß ich auch«, raunte Ryan und brachte gleichzeitig ein Lächeln für seine Mutter zustande.
»Hallo, Schatz«, rief seine Mutter und breitete die Arme aus, um ihn an sich zu drücken - dem konnte er sich durch einen Schritt zur Seite gerade noch entziehen; den Kuss jedoch musste er über sich ergehen lassen.
»Was machst du hier?«, fragte er sie. »Du hast Kip Adamson doch gar nicht
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