Das Teufelsspiel
im Westen Harlems die Sandsteinhäuser voneinander trennten.
Im Augenblick war er jedoch nicht Jax, der hinkende Exsträfling und Blut verspritzende Graffitikönig vergangener Jahre, sondern ein namen- und obdachloser Spinner in schmutziger Jeans und grauem Sweatshirt, der einen geklauten Einkaufswagen vor sich herschob. Darin lagen gebündelte Zeitungen im Wert von ungefähr fünf Dollar sowie einige Pfandflaschen, die er aus einer Recyclingtonne gefischt hatte. Er bezweifelte, dass man ihm die Rolle aus größerer Nähe abkaufen würde – er war ein wenig zu sauber, um als typischer Penner durchzugehen –, aber er musste ja auch nur wenige Leute täuschen: zum Beispiel die Cops, die ständig um Geneva Settle herumschwirrten.
Er verließ die Gasse, überquerte eine Straße und verschwand im nächsten Durchgang. Es waren noch ungefähr drei Blocks bis zur Hintertür des Hauses, das dieser arme Esel Kevin Cheaney ihm gezeigt hatte.
Ein verdammt hübsches Haus.
Er fühlte sich beschissen, weil er wieder daran denken musste, dass er es nie geschafft hatte, eine eigene Familie zu gründen.
Sir, ich muss mit Ihnen reden. Es tut mir Leid. Das Baby … Wir konnten ihn nicht retten.
War es ein Er?
Es tut mir Leid, Sir. Wir haben getan, was wir konnten, das dürfen Sie mir glauben, aber …
Es war ein Er …
Er schob die Gedanken beiseite und ging langsam, aber entschlossen weiter. Gelegentlich murmelte er etwas vor sich hin. Eines der Räder war defekt, und der Wagen zog dauernd nach links, Irgendwie wäre es komisch, wenn man ihn für den Diebstahl eines Einkaufswagens drankriegen würde. Aber dann entschied er, dass er es keineswegs komisch fände. Irgendein Cop könnte auf die Idee kommen, ihn wegen einer solchen Kleinigkeit zu filzen. Der Mann würde die Waffe finden, Jax’ Identität feststellen lassen und ihn wegen des Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen zurück nach Buffalo verfrachten. Oder an einen noch schlimmeren Ort.
Ratter, Ratter – der mit Abfall übersäte Durchgang war die Hölle für das beschädigte Rad des Wagens. Jax hatte Mühe, das Ding auf Kurs zu halten. Aber er musste in den dunklen Häuserschluchten bleiben. In diesem feineren Teil Harlems würde er sich verdächtig machen, falls er sich mitten auf dem Bürgersteig einem ordentlichen Wohnhaus näherte. In der Gasse aber wirkte der Einkaufswagen nicht ganz so deplatziert. Reiche Leute warfen Pfandflaschen oft einfach weg. Und der Müll war generell von besserer Qualität. Also würde ein Obdachloser viel eher im Westen als im Zentrum Harlems auf die Suche gehen.
Wie weit noch?
Jax der Obdachlose hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. Noch zwei Blocks bis zur Wohnung des Mädchens.
Fast da. Fast geschafft.
Irgendetwas juckte ihn.
Bei Lincoln Rhyme konnte das durchaus wörtlich gemeint sein – sein Empfindungsvermögen an Hals, Schultern und Kopf war nicht beeinträchtigt. Auf dieses eine Gefühl hätte Rhyme allerdings liebend gern verzichtet; es gab für einen Querschnittsgelähmten nichts Frustrierenderes, als sich in so einem Fall nicht kratzen zu können.
Gegenwärtig aber juckte es ihn im übertragenen Sinne.
Etwas stimmte nicht. Was war es?
Thom stellte ihm eine Frage. Er achtete nicht darauf.
»Lincoln?«
»Ich denke nach. Siehst du das nicht?«
»Nein, das findet in deinem Innern statt«, erwiderte der Betreuer.
»Nun, dann sei einfach still.«
Was war das Problem?
Er musterte zum wiederholten Mal die Tabellen, das Profil, die alten Briefe und Zeitungsausschnitte, die seltsame Miene auf dem umgekehrten Gesicht des Gehängten … Aber irgendwie schien das Jucken nichts mit den Beweismitteln zu tun zu haben.
Also sollte er sie am besten ignorieren.
Und sich wieder auf …
Rhyme neigte den Kopf. Fast hätte er den Gedanken zu fassen bekommen. Er entglitt ihm.
Es war irgendeine Anomalie, ein paar kürzlich gefallene Worte, die nicht ganz ins Bild passten.
Dann: »Oh, zum Teufel noch mal«, rief er. »Der Onkel!«
»Was?«, fragte Mel Cooper.
»Herrje, Genevas Onkel.«
»Was ist mit ihm?«
»Geneva hat gesagt, er sei der Bruder ihrer Mutter.«
»Und?«
»Als wir vorhin mit ihm gesprochen haben, hat er gesagt, er habe mit seinem Bruder telefoniert.«
»Vielleicht hast du dich nur verhört.«
»O nein, da bin ich mir sicher … Kommando, Telefon. Anrufen, Bell.«
Der Detective erkannte am Klingelton seines Mobiltelefons, dass der Anruf aus Lincoln Rhymes Haus kam. Er hob sofort ab.
»Hier
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