Das Teufelsspiel
erfüllen, nämlich die gegenüberliegenden Wohnungen sichern, und ihr blieb wenig Zeit. Das Zugriffsteam würde jeden Augenblick losschlagen. Sachs klingelte bei allen Anwohnern, ließ die vorderen Zimmer räumen und wies die Leute an, vorläufig hinter verschlossenen Türen auszuharren. Dann wandte sie sich über die geheime Funkfrequenz an Bo Haumann und teilte ihm mit, die unmittelbare Nachbarschaft sei gesichert; sie werde sich nun um die weiter entfernten Häuser kümmern.
»Okay, wir gehen rein«, sagte der Mann kurz und bündig.
Sachs ging die Straße entlang und ertappte sich dabei, dass sie einen Fingernagel in die Nagelhaut ihres Daumens grub. Die Ironie der Situation wurde ihr bewusst: Sellitto war nervös, weil er sich in Gefahr begab; sie selbst hingegen konnte es kaum ertragen, sich in sicherer Entfernung zu befinden.
… Einunddreißig
Lon Sellitto folgte den vier Beamten die schwach beleuchtete Treppe in den ersten Stock hinauf.
Keuchend hielt er inne und rang nach Luft. Die ESU-Cops kauerten sich nieder und warteten auf Haumanns Mitteilung, dass die Stromzufuhr der Wohnung unterbrochen war – niemand hatte Lust, vorher den Türknauf zu berühren.
Während sie warteten, hielt der massige Detective insgeheim Zwiesprache mit sich selbst: Bist du hierzu bereit?
Denk gut nach. Du musst dich jetzt entscheiden. Gehst du, oder bleibst du?
Tapp, tapp, tapp …
Die Bilder wirbelten in seinem Kopf umher: Das Blut, das ihn so widerlich bespritzte, als die Nadeln aus dem Projektil das Fleisch zerfetzten. Die braunen Augen, die in der einen Sekunde noch voller Leben waren und in der nächsten glasig wurden. Der eisige Schauder absoluter Panik, als die Kellertür an der Elizabeth Street sich öffnete und sein Revolver mit lautem Knall und heftigem Rückstoß losging. Amelia Sachs, die zusammenzuckte und nach ihrer Waffe griff, als die Kugel dicht neben ihr einschlug.
Die Kugel aus meiner verdammten Knarre!
Was ist bloß los?, grübelte er. Hatte er die Nerven verloren? Er lachte innerlich auf, weil er unwillkürlich an Lincoln Rhyme denken musste, dessen Nerven im Rückgrat tatsächlich zerstört waren. Tja, Rhyme kam damit inzwischen verflucht gut zurecht. Warum kann ich das nicht?
Er musste eine Antwort auf diese Frage finden, denn falls er nun mitging und im entscheidenden Moment zögerte oder erneut falsch reagierte, könnte jemand sterben. Vermutlich würde jemand sterben, denn dieser Täter war eiskalt.
Falls er kniff und den Rückzug antrat, wäre seine Karriere vorbei, aber wenigstens würde er seine Kollegen nicht gefährden.
Kriegst du das hin?, fragte er sich.
»Detective«, sagte der Teamleiter. »Wir gehen in etwa dreißig Sekunden rein. Wir brechen die Tür auf, schwärmen aus und suchen alle Räume ab. Dann können Sie hereinkommen und den Schauplatz sichern. Sind Sie damit einverstanden?«
Gehen oder bleiben?, überlegte der Lieutenant. Du kannst einfach die Treppe runtergehen. Das war’s dann. Du gibst deine Marke ab, heuerst als Sicherheitsberater bei irgendeiner großen Firma an und verdoppelst damit dein Gehalt.
Niemand wird je wieder auf dich schießen.
Tapp, tapp, tapp …
Niemand wird je wieder zusammenzucken und wenige Zentimeter vor dir tot umfallen.
Tapp …
»Ist das okay?«, wiederholte der Beamte.
Sellitto sah ihn an. »Nein«, flüsterte er. »Nein.«
Der ESU-Cop runzelte die Stirn.
»Sie schlagen die Tür mit der Ramme ein«, sagte der massige Detective. »Dann gehe ich rein. Als Erster.«
»Aber …«
»Sie haben Detective Sachs gehört«, flüsterte Sellitto. »Dieser Täter arbeitet nicht allein. Wir benötigen dringend Informationen, die uns zu dem Wichser führen, der ihn angeheuert hat. Ich weiß, wonach ich Ausschau halten muss, und kann die Spuren schützen, falls er versucht, sie zu vernichten.«
»Lassen Sie mich über Funk nachfragen«, sagte der ESU-Mann zweifelnd.
»Officer«, ermahnte Sellitto ihn ruhig. »So und nicht anders wird es ablaufen. Ich habe hier den höchsten Dienstgrad.«
Der Teamleiter sah seinen Stellvertreter an. Sie zuckten beide die Achseln.
»Wenn Sie unbedingt … wollen.«
Sellitto vermutete, dass der Mann die Worte »Selbstmord begehen« ausgelassen hatte.
»Sobald der Strom abgeschaltet wird, geht es los«, sagte der ESU-Beamte und setzte eine Gasmaske auf. Die anderen – auch Sellitto taten es ihm nach. Der Lieutenant hob Sachs’ Glock – ohne den Finger um den Abzug zu legen – und stellte sich
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