Das Teufelsspiel
Täter nicht dachten). Aber der zweite?
Sie fragte Rhyme.
»Das liegt doch auf der Hand. Es bedeutet, dass er höchstwahrscheinlich vorbestraft ist; sobald wir einen Abdruck haben, wird AFIS uns seinen Namen verraten.« Das Automatische Fingerabdruck-Identifizierungssystem des FBI sowie vergleichbare Computerdatenbanken der einzelstaatlichen Polizeibehörden waren in der Lage, einen Fingerabdruck binnen Minuten zu identifizieren. Früher hatten manuelle Vergleiche Tage oder sogar Wochen in Anspruch genommen.
»Natürlich«, sagte Sachs und ärgerte sich, dass sie nicht von allein darauf gekommen war.
»Gibt es noch weitere gute Neuigkeiten?«
»Der Boden wurde gestern Abend gebohnert.«
»Und der Überfall ist heute am frühen Morgen passiert. Demnach müsste der Täter deutliche Fußspuren hinterlassen haben.«
»Ja. Hier sind ein paar Prachtexemplare.« Sie kniete sich hin und nahm elektrostatische Abdrücke der Fußspuren des Mannes. Eine Verwechslung war ausgeschlossen; Amelia konnte genau sehen, wie er sich Genevas Tisch genähert, seine Haltung beim Ausholen zum Schlag verlagert und das Mädchen dann zur Feuertreppe verfolgt hatte. Sie hatte seine Abdrücke außerdem mit denen des einzigen anderen Mannes verglichen, der an jenem Morgen vor Ort gewesen war: Ron Pulaski, dessen spiegelblank polierte Dienstschuhe ein völlig anderes Sohlenprofil aufwiesen.
Sachs schilderte, wie das Mädchen eine Modepuppe benutzt hatte, um den Täter abzulenken und zu fliehen. Rhyme lachte anerkennend.
»Er hat sehr fest zugeschlagen«, sagte sie. »Mit einem stumpfen Gegenstand. So fest, dass der Plastikkopf unter der Wollmütze geborsten ist. Dann muss er ziemlich wütend geworden sein, weil sie ihn hereingelegt hatte. Er hat auch das Mikrofilmlesegerät zertrümmert.«
»Mit einem stumpfen Gegenstand«, wiederholte Rhyme. »Kannst du einen Abdruck nehmen?«
Als Leiter der forensischen Abteilung des NYPD – vor seinem Unfall – hatte Rhyme diverse Datenbanken angelegt, um Beweisstücke und Spuren leichter identifizieren zu können. Die Kartei der stumpfen Gegenstände umfasste Hunderte von Abbildungen. Sie zeigten, welche Schäden sowohl menschliche Körper als auch leblose Oberflächen davontrugen, wenn sie von den unterschiedlichsten Objekten getroffen wurden – von Schraubenschlüsseln über Knochen bis hin zu Eisbrocken.
»Nein, Rhyme, da ist nichts«, sagte Sachs, nachdem sie erst die Puppe und dann das Lesegerät gründlich untersucht hatte. »Genevas Mütze …«
»Geneva?«
»So heißt das Mädchen.«
»Oh. Red weiter.«
Sie war – wie schon so oft – kurzzeitig verärgert, dass er sich nicht für das Opfer oder dessen gegenwärtige Verfassung interessierte. Es machte ihr zu schaffen, dass Rhyme bei seiner Arbeit eine solche Teilnahmslosigkeit an den Tag legte. Er hingegen behauptete, ein Kriminalist müsse so sein. Ein Pilot dürfe sich schließlich auch nicht von einem herrlichen Sonnenuntergang ablenken oder von einem Unwetter einschüchtern lassen und als Folge womöglich gegen einen Berg fliegen. Das Gleiche gelte für Polizisten.
Sachs verstand, was er meinte, doch für sie waren Opfer menschliche Wesen und Verbrechen keine wissenschaftlichen Versuchsanordnungen, sondern schreckliche Tragödien. Vor allem, wenn es sich bei dem Opfer um ein sechzehnjähriges Mädchen handelte.
»Durch die Mütze, die sie der Puppe aufgesetzt hat, wurde die Schlagwirkung gestreut«, fuhr Amelia fort. »Und das Lesegerät ist ebenfalls in kleine Stücke zerbrochen.«
»Bring ein paar der jeweiligen Bruchstücke mit«, sagte Rhyme. »Vielleicht hat ein Spurenaustausch stattgefunden.«
»Okay.«
Bei Rhyme waren im Hintergrund einige Stimmen zu hören. »Beeil dich mit dem Rest, und komm dann wieder her«, sagte er und klang dabei irgendwie ungehalten.
»Ich bin fast fertig«, sagte sie. »Ich nehme mir nur noch den Fluchtweg vor … Rhyme, was ist denn bei dir los?«
Stille. Als er dann antwortete, wirkte er sogar noch trübsinniger. »Ich muss Schluss machen, Sachs. Es kommt offenbar Besuch.«
»Wer …?«
Aber er hatte bereits die Verbindung unterbrochen.
Die Frau in Weiß, die Spezialistin, tauchte nicht mehr am Fenster der Bibliothek auf.
Thompson Boyd hatte sich ohnehin anderen Dingen zugewandt. Von seinem Aussichtspunkt in achtzehn Metern Höhe beobachtete er mittlerweile einen älteren Cop, der soeben auf einige Zeugen zuging. Der Mann war mittleren Alters, beleibt und mit einem überaus
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